Was wichtig ist

Wenn Bundespräsident Horst Köhler den Parteien heute in Berlin die Leviten liest, um sie zum Handeln anzuspornen, wird er die üblichen Reaktionen ernten. Sie reichen von fröhlicher Genugtuung bis zum skeptischen Einwand.

Wenn Bundespräsident Horst Köhler den Parteien heute in Berlin die Leviten liest, um sie zum Handeln anzuspornen, wird er die üblichen Reaktionen ernten. Sie reichen von fröhlicher Genugtuung bis zum skeptischen Einwand. Sinn stiftend dürfte die mutmaßliche Brandrede aber kaum sein, denn Köhlers hehre Reformappelle werden lediglich dazu beitragen, die ohnehin überfrachteten Erwartungen hinsichtlich des großen Gipfels am Donnerstag weiter zu erhöhen. Wer die Diskussion der vergangenen Tage verfolgt hat, wird sein Vor-Urteil bestätigt sehen. Alles, was da an Rezepten und Vorschlägen präsentiert wird, ist schon x-mal durch die Forderungsmangel gedreht worden. Man kann es nicht mehr hören: Entbürokratisierung, Deregulierung, Steuersenkung, Verbreiterung der Bemessungsgrundlage... Es ist die ewig gleiche Leier, die seit Jahren vorgetragen wird. Und da die jeweiligen Regenten auch ebenso lange schon an Reformkonzepten basteln, übrigens ohne jeden durchschlagenden Erfolg, ist mit gewisser Berechtigung davon auszugehen, dass vom Gipfel der Rivalen im Kanzleramt nicht der Durchbruch zu erwarten ist. Vor jeder Therapie steht die Diagnose. Nur wenn man exakt weiß, woran der Patient krankt, besteht die Chance, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Deutschland leidet an einer schwachen Binnennachfrage, das ist bekannt. Aber warum ist das so? Nun, erstens ist eine gewisse Sättigung bei Verbrauchsgütern nicht zu leugnen – der Wohlstandsbürger nennt schon Spülmaschine und zwei Autos sein eigen, er besitzt bereits DVD-Player, Digitalkamera und Fotohandy. Zweitens sind die Löhne der Arbeitnehmer vom Produktivitätsfortschritt und der Gewinnentwicklung abgekoppelt worden. Drittens horten die Leute ihre Euro lieber auf dem Konto. Das ist der Knackpunkt: Die Menschen sind verunsichert, weil von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft unentwegt "alles" auf den Prüfstand gehievt wird. Weil sie Angst vor "Hartz IV" haben und immer mehr "Eigenvorsorge" leisten müssen. Weil die Unternehmen selbst dann Jobs abbauen, wenn sie Milliardengewinne machen. Wichtiger als jede noch so gut gemeinte Schräubchendreherei an der Unternehmenssteuer oder der Eigenheimzulage ist deshalb die Wiederherstellung des versickerten Vertrauens. Es ist die Psychologie, die für den Aufschwung sorgt. Zweifellos sind auch Reformen nötig, das ist ein natürlicher Dauerprozess. Ganz vordringlich: Eine Föderalismusreform, die mit dem Kompetenzwirrwarr aufräumt. Eine EU-Reform, die das Richtlinien-Unwesen transparenter macht. Wenn sich dazu noch eine Antwort auf die Frage gesellt, warum unser ächzendes Defizit-Land mit seinen üppigen EU-Zahlungen ausgerechnet jene Staaten päppelt, die mit ihren Steuerkampfquoten und Billiglöhnen unser System aushöhlen, könnte man der Wahrheit etwas näher kommen. nachrichten.red@volksfreund.de

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