Wenn der Wind sich dreht

BERLIN. Ein Leben im Bus: Joschka Fischer ist zu seiner sechswöchigen Wahlkampf-Tour mit 81 Veranstaltungen in 68 Städten aufgebrochen. Doch der Außenminister muss nicht nur die Wähler für sich gewinnen, sondern auch den Koalitionspartner SPD. Denn für viele Sozialdemokraten ist eine Große Koalition nicht mehr undenkbar.

"Tschüüüß", zwitschert Joschka Fischer und winkt ein letztes Mal in die Kameras. "Also, wir sehen uns." Der abgespeckte Obergrüne verschwindet in einem Reisebus mit getönten Scheiben und seinem Konterfei an den Seiten. "Alles Gute", flötet Claudia Roth noch schnell hinterher. "Gute Fahrt!", ruft die Parteivorsitzende mütterlich dem Buben zu. "Junge, komm' bald wieder", liegt da einem selbst auf den Lippen. Sechs Wochen sind schließlich kein Pappenstiel. So lange wird der Außenminister jetzt durch deutsche Landen tingeln, dabei 14 000 Kilometer zurücklegen, auf 81 Veranstaltungen in 68 Städten das rot-grüne Projekt preisen und versuchen, alte und neue Wähler zu mobilisieren. Ein schwieriges Unterfangen: Denn die Grünen leiden momentan irgendwie am FDP-Syndrom - sie werden nicht richtig wahrgenommen, in den Umfragen bewegt sich nach oben kaum etwas. Und jetzt muss sich die Partei auch noch mit dem Koalitionsflirt der Großen herumplagen. Vor der grünen Parteizentrale, die für den Wahlkampf "Prozentfabrik" getauft worden ist, haben sie sich alle versammelt: Mitarbeiter, Parteiobere und die geballte Medienmacht, um Fischer, den Spitzen- und Weltmann, vom Olymp der Außenpolitik in die deutsche Provinz zu verabschieden. Man kommt sich vor wie in einem Überseehafen, wenn die großen Pötte mit viel Herz, Schmerz und "Winke-Winke" nach Amerika in See stechen. Dabei bricht Joschka Fischer nur ins niedersächsische Hildesheim auf, um auf dem dortigen Marktplatz zu erklären, dass "eine konservative, neoliberale Mehrheit" aus Union und FDP unbedingt verhindert werden muss. Und neuerdings auch die große Koalition. Nur, wie? Der schön inszenierte Start in den Wahlkampf ist dem Vizekanzler gehörig vermasselt worden. Dabei hatte die Woche dank der Demoskopen so gut angefangen: Schwarz-Gelb schwächelt, die Wechselstimmung scheint zu verpuffen, "es dreht sich gerade der Wind", so Fischer. Und plötzlich muss er, der Politprofi, zähneknirschend erkennen: "Manchmal ist es schwer, Volksparteien zu verstehen." Gemeint ist der Noch-Koalitionspartner SPD, dessen Führungsriege am Wochenende angesichts der Stärke der Linkspartei eine Debatte um die große Koalition mit der Union anzettelte. Das sei ein "Kniefall" vor der CDU und eine "Selbstschwächung" der Genossen, zetert der Außenminister. Allerdings ist es auch ein weiterer Schlag ins grüne Kontor - während man sich nämlich für die Neuauflage von Rot-Grün abstrampelt, machen die Genossen einfach schon andere Betten, um an der Macht zu bleiben. Die Gräben zwischen den Koalitionären werden dadurch immer tiefer, und der grüne Wahlkampf, das Werben um eine Neuauflage der Koalition also, erheblich schwerer. Dabei wäre ein rot-grüner Sieg bei der Bundestagswahl so immens wichtig für die Ökopaxe. Denn dann würde sich ein gravierendes Problem, das die Grünen derzeit hinter den Kulissen bewegt, von selbst lösen: Während in anderen Parteien hochkarätiges Personal Mangelware ist, verfügen die Alternativen schlichtweg über zu viele Spitzenleute. Und zwar für zu wenige Posten, sollte der Urnengang verloren gehen. Fischer hätte für den Chefsessel in der Fraktion den ersten Zugriff. Rutscht das Ergebnis am 18. September aber klar unter acht Prozent, könnte er womöglich selbst das Handtuch werfen. Aber was wird aus den Ministern Renate Künast und Jürgen Trittin, wenn die Grünen aus der Regierung fliegen? Und was passiert mit den beiden jetzigen Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckhardt und Krista Sager? Auch Fritz Kuhn, der ehemalige Parteivorsitzende und jetzige Wahlkampfmanager, fühlt sich zu Höherem berufen. Bei einer Wahlniederlage dürfte bei den Grünen also vor allem eines ausgefahren werden - der Ellenbogen.

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