Wo du wolle!?

Sie brachten den Kaffee nach Europa, die ersten Kanonen und den Döner Kebab. Jahrhundertelang beglückten die Türken den Westen mit allerlei famosen Errungenschaften. Immer wieder standen sie vor der Tür des europäischen Hauses, mal blutrünstig drohend, mal freundlich werbend.

Hereingebeten worden sind sie nie. Nun klopfen sie erneut an und begehren Einlass - in die EU. Deutschen Politikern fällt dazu gegenwärtig vor allem eines ein: wie die "Türkei-Frage" angesichts der bevorstehenden Europa-Wahl am nutzbringendsten zu vermarkten sei. Von neuer Offenheit ist die Rede, von Ehrlichkeit und einem unverkrampften Verhältnis zwischen Berlin und Ankara. Wer's glaubt. Hinter den Bekundungen aus allen Lagern stecken wahltaktische Geplänkel - und keine Euro-Visionen. Mit weit zum Halbmond geöffneten Armen begrüßt Herr Schröder die Freunde vom Bosporus, gewohnt wortreich massiert Herr Fischer ihre Seelen, derweil Frau Merkel sich windet und vom "dritten Weg" fabuliert. Und Herr Stoiber gebärdet sich wie Prinz Eugen, der einst den Vormarsch der Türken auf Europa stoppte und die Heere der Sultane, Kalifen und Wesire nach Kleinasien zurückdrängte. Türken und Europa? Unmöglich. Geht nicht. Wer soll das bezahlen. Und überhaupt. "Wo du wolle!?", fragt sich das Wahlvolk, die Ohren sausend ob der vielstimmigen Choräle seiner Vordenker. Immerhin besagen Umfragen: Die meisten Deutschen sind für den Schulterschluss mit der Türkei. Nur die wenigsten fürchten den Untergang des Abendlandes. Bis vor kurzem schien alles ganz einfach: Ja doch, die Türkei kann gerne Mitglied der EU werden - aber erst, wenn sie eine richtige Demokratie ist, mit einer funktionierenden Marktwirtschaft. Das beschlossen die EU-Gewaltigen vor fünf Jahren - und lehnten sich hernach gemütlich zurück: Bis die eine ordentliche Demokratie hinkriegen, dauert es eine Generation oder länger. Nach uns die Sintflut. Irrtum! Offenbar ahnte niemand, dass die Türkei mehr Demokratie wagen und sich flugs als "beitrittsfähig" entpuppen würde. In atemberaubender Geschwindigkeit. Zum zweiten Mal innerhalb von hundert Jahren wird das Land am Bosporus umgekrempelt. Wie weiland Atatürk, der aus dem zerbröselnden Osmanen-Reich eine Republik formte, drückt nun Erdogan aufs Tempo. So sehr, dass manchen reformstau-geplagten deutschen Politiker schier der Schwindel packt. Todesstrafe: abgeschafft. Ausnahmezustand: aufgehoben. Anti-Terror-Gesetz: entschärft. Die Macht der Militärs: beschnitten. Sprachunterricht für Kurden: genehmigt. Ein Wiedervereinigungsplan für das geteilte Zypern: abgesegnet. Klingt wahrlich gut - auf dem Papier. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International bleiben skeptisch, sprechen vonsystematischer Folter, prügelnden Polizisten und vorgetäuschten Exekutionen in Gefängnissen. Hierzulande liebäugeln Politiker aus dem konservativen Lager damit, die Europawahl zur Volksabstimmung gegen die Türkei zu erklären. Plumpe Ressentiments, Angst-Appelle? Nicht weit sei es schließlich von Stambul nach Bagdad. Der Irak als Nachbar der EU? Das löst Schauder aus. Nicht minder das Schreckensgemälde, die Türkei werde das Gefüge der EU völlig durcheinander bringen und sich als Machtzentrum innerhalb der Gemeinschaft etablieren. Europa-Politik vom Goldenen Horn? Das wäre in der Tat gewöhnungsbedürftig. Und doch: Wer die türkischen Bemühungen jetzt brüskiert, riskiert die Stärkung der fundamentalistischen Kräfte am Bosporus. Das kann nicht westliches Interesse sein. Allein die Aussicht auf Aufnahme in die EU hat Ankara beflügelt, eine neue Politik anzustoßen. Diese Entwicklung verdient Unterstützung. Nicht zu vergessen: Es waren CDU-Kanzler, die der Türkei seit mehr als 40 Jahren die EU-Mitgliedschaft versprochen haben: Adenauer, Erhard, Kiesinger, Kohl - zu einer Zeit, als türkische Generäle den Ton angaben, Minderheiten unterdrückt und politische Gegner gefoltert wurden. Es geht nicht um die wenigen Monate bis zur Europa-Wahl. Es geht nicht um die Frage, ob in deutschen Döner-Buden die Preise purzeln, wenn die Türkei erst Vollmitglied der EU sei, wie eine Boulevard-Zeitung fragt. Es geht um die nächsten eineinhalb Jahrzehnte, in denen die Türkei den Nachweis ihrer EU-Tauglichkeit erbringen kann. Diese Chance, diese Zeit sollten ihr die Architekten Europas gewähren. Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen. p.reinhart@volksfreund.de

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