Wurf mit Wermutstropfen

Auch wenn die Europa-Skeptiker schon in den Startlöchern stehen und die Diskussion über das halb volle oder halb leere Glas Wasser entbrennt: Der EU-Konvent unter der Führung von Giscard d'Estaing hat mit seinen Verfassungsvorschlägen seinen Auftrag erfüllt. Und wenn die Staats- und Regierungschefs an diesem Freitag beim EU-Gipfel in Thessaloniki über die einzelnen Punkte entscheiden, ist auch klar: Der Entwurf ist zwar nicht radikal, wird die erweiterte Union aber nachhaltig verändern. Denn was Regierungskonferenzen in Nizza und Amsterdam nicht zustande gebracht haben, nämlich einen Kompromiss für ein handlungsfähiges Europa zu schmieden, hat der ehemalige französische Staatspräsident mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche den 105 Konventmitgliedern in zähem Ringen abverlangt. Dabei hielten einige den 77-Jährigen bereits für so senil, dass sie im Konvent nichts als einen teuren Debattierklub sahen. Lautete der Auftrag für die Versammlung zunächst nur, ein "Mehr" und "Besser" des Status' quo zu schaffen, so liegt letztlich ein Grundsatzdokument auf dem Tisch, mit dem sich 450 Millionen Menschen in 28 Ländern identifizieren können. Ein Zeichen dafür, dass die EU lebt, als ein Europa der wachsenden Integration und Entscheidungsfähigkeit. Das belegt auch die Führung aus neuem EU-Außenminister, länger amtierenden Ratspräsidenten und gestärktem Kommissions-Präsidenten - eine Troika mit Gesichtern. Letzterer wird vom Europaparlament gewählt und damit indirekt von den Bürgern. Das neue Europa ist auch eins der Bürger, eines, das nun auch Begehren zulässt. Aber trotz aller Euphorie: Europa bleibt ein Gebilde von Einzelstaaten. Nichts zeigt dies deutlicher als das Gerangel um die Einführung von Mehrheitsentscheiden in der Außen- und Sicherheitspolitik. Einzelmeinungen werden nach wie vor gemeinsame Anstrengungen kippen und ein einheitlich europäisches Handeln verhindern können. Dies zeigt: Die Zeit ist noch nicht reif dafür, dass die EU in so wichtige Bereiche wie Souveränitätsrechte und außenpolitische Fragen eingreifen könnte. Ein Wermutstropfen zwar für all diejenigen, die sich einen europäischen Bundesstaat wünschen. Doch was wäre im Irak-Konflikt gewesen, wo zeitweilig die Mehrheit der EU-Staaten auf US-Linie waren und einen Krieg mitgetragen hätten? Deutschland und Frankreich wären überstimmt worden. Um so wichtiger wird künftig die Besetzung des EU-Außenminister-Postens werden - eine Funktion, die im Inneren integrieren und nach Außen präsentieren muss: ideal für Europa-Verfechter Joschka Fischer. Somit bleiben die Nationalstaaten zwar Herren über die Ausgestaltung der Verfassung, holen sich aber die Bürger mit ins Boot. Von ihrer Zustimmung wird es abhängen, welchen "Geist" die EU künftig bekommt. Europa bleibt also in Bewegung, es geht weiter, irgendwie. s.schwadorf@volksfreund.de

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