Cynthia erklärt Touristen, was sie selbst nicht begreift

New York · Der 11. September 2001 hat die Welt verändert: Zehn Jahre nach den verheerenden Terroranschlägen in New York und Washington beleuchtet der TV in einer losen Serie Schicksale, die mit diesem Datum verbunden sind. Hier Teil zwei: Immer wieder erzählt Ground Zero-Touristenführerin Cynthia Branco ihre persönliche 9/11-Geschichte - aus Dankbarkeit und als Therapie.

 Ein New-York-Bild in der Hand, erzählt Cynthia Branco Touristen ihre 9/11-Geschichte. TV-Foto: Friedemann Diederichs

Ein New-York-Bild in der Hand, erzählt Cynthia Branco Touristen ihre 9/11-Geschichte. TV-Foto: Friedemann Diederichs

New York. "Für Kinder kann die Tour zu belastend sein", warnt ein Hinweisschild. Cynthia Branco, eine resolute Mittfünfzigerin und Pädagogin, führt die Kolonne der Neugierigen an, die sich am Sammelpunkt gleich gegenüber Ground Zero aufgestellt haben. "Sie werden einiges hören, was nur schwer erträglich ist", warnt sie.TV-Serie zum Jahrestag 11. September 2001


Zehn US-Dollar sind für 75 Minuten Geschichte aus erster Hand zu entrichten. Mehr als 200 Männer und Frauen leiten derzeit für das "World Trade Center Tribute Center" Touristen um den Ort der Katastrophe, fünfmal pro Tag. Und viele der Führer sehen es als Chance zur Seelen-Heilung: reden, um das Unbegreifliche darzustellen und auch für sich selbst fassbarer zu machen. Denn jeder der "Tour-Guides" zeichnet sich durch etwas ganz Besonderes aus: Einen Lebenslauf, der direkt mit den Terror-attacken verknüpft ist.
Neben Cynthia Branco gehört auch Bill Spade zu den freiwilligen Erzählern. Seine Geschichte hat - trotz der monumentalen Tragödie - ein Happy End: Er ist einer von zwölf Feuerwehrmännern der "Rescue 5"-Einheit, die den Einsturz des Nordturms überlebt haben. 30 Sekunden vor dem Kollaps verließ er das brennende Gebäude, wurde von Trümmern getroffen - aber er lebt. 85 seiner 343 Brandbekämpfer-Kollegen, die an diesem Tag starben, kannte er mit dem Vornamen. Und fragt sich nun seit zehn Jahren: "Warum sie und nicht ich?" Die Antwort sucht er noch, und manchmal fühlt er sich nahe. "Jahrelang hatte ich Termine beim Psychologen", sagt Spade, "aber dies ist nun für mich die Therapie. Vielleicht durfte ich ja leben, damit andere Menschen nicht vergessen."
Cynthia Branco weiß sehr gut, wovon ihr Kollege spricht. "Survivor guilt" heißt das mittlerweile auch in ihrer Familie wohlbekannte Syndrom. Es bezeichnet die Schuldgefühle jener, die im World Trade Center arbeiteten oder zum Einsatz kamen - und deren Namen nicht in die Marmorblöcke der Gedenkstätte eingemeißelt wurden. Dass Cynthia Brancos Mann Brian eigentlich zur Opferliste hätte zählen müssen, erfährt das Dutzend Touristen nach einer halben Stunde, als die Lehrerin - im Foyer des Welt-Finanzzentrums mit Panoramablick auf die Ground Zero-Baugrube - ihre ganz persönliche Geschichte erzählt.
Sie beginnt "an einem wunderbaren Tag, was das Wetter angeht." Brian verabschiedet sich mit einem Kuss. Zuvor hat man sich gestritten, weil er einen Sportwagen gekauft hatte. Dann macht er sich auf den Weg an seinen Arbeitsplatz im 78. Stock des South Tower - dort, wo um 9.03 Uhr die United Airlines-Boeing mit der Flugnummer 175 einschlagen wird. Cynthia Branco nimmt einen Merkzettel zur Hand, denn nun wird die Stimme weich und die Augen schimmern feucht, als sie die Fakten jenes Tages rekapituliert.
"Die Entführer gaben noch einmal Gas, als sie die Türme sahen. Sie flogen schräg in die Wolkenkratzer, um maximalen Schaden anzurichten." Es sind Details, die in Vergessenheit geraten sind - aber nun wieder so lebendig werden, dass es schmerzt. Nicht wenige Touristen schlucken, als Cynthia Branco vorliest, was sich im Nordturm abspielte: "Dort gab es, anders als etwas später im Südturm, keine Fluchtmöglichkeit nach unten. Wer über der Einschlagstelle war, stand vor der Wahl zu verbrennen, zu ersticken oder zu springen." Mehr als 200 Menschen wählen den Fall in die Tiefe, einige halten sich dabei an den Händen.Trügerische Ruhe


Brian Branco hört im Süd-Tower die verhängnisvollen Lautsprecherdurchsagen. Die Stimme aus der Verwaltungszentrale versucht zu beschwichtigen: Es bestehe keine Gefahr, niemand möge seinen Arbeitsplatz verlassen. Doch für den Mann ist es eine trügerische Ruhe. Bestärkt durch ein immer stärker werdendes Gefühl, nicht sicher zu sein, verlässt er zusammen mit einem Kollegen das Büro. Dort zerfallen Minuten später jene drei Mitarbeiter, die zurückgeblieben sind, in der Feuerhölle des Flugzeugbenzins zu Asche.
Cnythia Branco ahnt von alledem nichts, als sie - daheim im Manhattan gegenüberliegenden New Jersey - durch eine Freundin am Telefon vom Einschlag der Flugzeuge und dann vom Einsturz der Türme erfährt. Sie weiß nur, dass ihr die Nachrichten "wie eine Faust in den Magen" hauen. Doch Brian hat überlebt, er hat den letzten Fahrstuhl nach unten genommen. "Er hat noch nicht einmal Staub an sich, als er plötzlich vor der Haustür steht," erinnert sie sich. Sie liegen sich in den Armen, denn Brian gehört zu jenen 17 000 Menschen, die an 9/11 aus der unmittelbaren Gefahrenzone entkommen konnten. 17 000 - eine Zahl, die von Historikern nie genannt werde, sagt Cynthia Branco. "Es wird ja vor allem über die Toten geredet." Dass sie nun über Brian und sich selbst zu wildfremden Menschen aus der ganzen Welt spricht, hat auch mit Dankbarkeit zu tun: "Es ist mein Beitrag dafür, dass er leben darf."Zum Schluss ein Vergil-Satz


Wie eng die Trennlinie zwischen Leben und Tod am 11. September 2011 verlief, zeigen die Stopps der Tour, an denen Cynthia Fakten preisgibt, die auch viele Amerikaner nicht kennen. Dass die Angehörigen der getöteten Feuerwehrleute hinter dem meterlangen Bronzerelief an der Gedenkmauer der "Ladder 10"-Station handgeschriebene Botschaften an die Verstorbenen einmauern lassen konnten.
Oder dass man im 9/11-Memorial inmitten von Ground Zero die Überreste jener 1123 Opfer, die bis heute nicht eindeutig identifiziert werden konnten, hinter einer nicht gekennzeichneten Wand lagern wird.
Dann, zum Ende der Tour, zieht Cynthia Branco noch einen Zettel hervor. Und liest zum Abschied einen dem römischen Poeten Virgil zugeschriebenen Satz, der sich am Ground Zero Memorial wiederfindet - und der auch für ihr Reden gegen das Vergessen steht. "Kein Tag soll dich aus dem Gedächtnis der Zeit auslöschen."

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