"An meiner Kritik ändert das nichts"

BERLIN. Der Kanzler droht mit Rücktritt und scheint die Forderungen der SPD-Linken in Sachen Agenda 2010 nicht ernst zu nehmen - über diese und andere Themen sprach der TV mit dem sozialdemokratischen Agenda-Kritiker Ottmar Schreiner.

Herr Schreiner, der Kanzler droht permanent mit Rücktritt, wenn die Agenda 2010 nicht nach seinen Vorstellungen läuft. Beeindruckt Sie das? Schreiner: Nein. Ich halte es auch für falsch, ständig mit Rücktritt zu drohen. Das beeinträchtigt die notwendige offene Klärung der Sachfragen. Der SPD-Vorstand hat das Konzept am Montag mit großer Mehrheit gebilligt. Schröder rechnet damit, dass die Agenda auf dem Sonderparteitag glatt über die Bühne geht. Sie auch? Schreiner: Ich gehe davon aus, dass es auf dem Parteitag sehr lebhafte Debatten gibt. Bei den besonders strittigen Punkten - Absenkung Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere, Umfinanzierung Krankengeld - hat es am Montag in der Antragskommission durchaus knappe Abstimmungsergebnisse gegeben. Der Leitantrag steht ja als Gesamtpaket zur Abstimmung. Glauben Sie ernsthaft, dass er noch scheitern könnte? Schreiner: Ich muss davon ausgehen, dass er eine Mehrheit findet - allerdings erst nach lebhaften Diskussionen und vor dem Hintergrund, dass die Abstimmung beeinflusst wird durch die eingangs erwähnte Ankündigung des Kanzlers. Am Wochenende haben Sie noch gehofft, der Kanzler könnte Zugeständnisse machen. Stichwort "Iwan", das nun umgetaufte Perspektiv-Programm. Schröder scheint es nicht sonderlich ernst zu nehmen. "Iwan": ein Placebo, um die Kritiker hinzuhalten? Schreiner: Das muss man sehen. "Iwan", das jetzt "Wege zu einem neuen Fortschritt" heißt, ist ein Arbeitsauftrag für den ordentlichen Parteitag im November. Er soll ausgereifte Vorschläge liefern. Aber Sie wollten eigentlich die soziale Ausgewogenheit der Agenda herstellen. Außerdem sollen diese Zusatz-Vorschläge erst im November behandelt werden. Dann ist die Agenda doch längst abgesegnet? Schreiner: Es ist der Versuch, den Kritikern eine Brücke zu bauen. Ob das hilfreich ist, weiß ich nicht. An meiner grundsätzlichen Kritik an der Agenda ändert das nichts. Heißt das, Sie stimmen im Bundestag, wenn es ernst wird, nicht zu? Schreiner: In einzelnen Punkten könnte ich mir vorstellen, dass es zu einer Verständigung kommt. Das gilt zum Beispiel für die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Schwierig wird es bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitnehmer und bei der Umfinanzierung des Krankengeldes, die auf eine einprozentige Lohnabsenkung hinaus läuft. Das Mitgliederbegehren, zu dessen Initiatoren Sie zählen, läuft ausgesprochen schlecht. Nur 15 000 Genossen haben bislang unterschrieben, fast 70 000 sind nötig. Das riecht doch nach Scheitern? Schreiner: Nein, überhaupt nicht. Es stimmt, dass die Rückläufe nicht besonders gut sind, aber sehr viele Mitglieder sagen: Wir wollen erst mal den Sonderparteitag abwarten. Der gesellschaftliche Diskussionsprozess geht klar in Richtung Zustimmung zur Agenda. Nur SPD-Linke, die PDS und die Gewerkschaften sind dagegen. Fühlen Sie sich nicht isoliert? Schreiner: Ich fühle mich überhaupt nicht isoliert, und es stimmt auch nicht, was Sie sagen. Nach meiner Wahrnehmung geht der Diskussionsprozess keineswegs einseitig Richtung Agenda. Ich kenne eine Reihe von Umfragen, wonach sich Befürworter und Gegner die Waage halten. Und mich erreichen täglich große Mengen von Briefen und E-Mails, die mich in meiner Auffassung bestätigen. S Das Gespräch führte Bernard Bernarding.

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