Außenminister der Einheit

Berlin. Er war 32 Jahre Abgeordneter im Bundestag, elf Jahre Vorsitzender der FDP. 23 Jahre saß er am Kabinettstisch einer Bundesregierung. Zuletzt war der Mann mit dem gelben Pullunder dienstältester Außenminister der Welt. Heute wird Hans-Dietrich Genscher 80 Jahre alt.

Da gibt es diesen Witz, den man vermutlich schon 100-mal gehört hat, der aber einen Menschen wie Hans-Dietrich Genscher unglaublich treffend charakterisiert: "Kommen sich zwei Flugzeuge entgegen - in beiden sitzt Genscher." Was haben wir gelacht damals. Der Genscher fliegt nur noch hin und her. Wie "Genschman" aus dem Satiremagazin "Titanic", mit seiner schwarzen Maske, dem Umhang und den ausgebreiteten, riesigen Ohren. Staatstragender klingt das so: Ein Leben über den Wolken, umtriebig von Berufs wegen, 18 Jahre lang als Außenminister. Aber auch umtriebig aus Leidenschaft zur Politik. Ein Mann der alten Schule

Heute feiert Hans-Dietrich Genscher seinen 80. Geburtstag. "Ich habe mich nie für unersetzlich gehalten", sagt der FDP-Ehrenvorsitzende rückblickend. Das ist alte Schule. "Von Genscher", behaupten Parteifreunde, "kann mancher der neuen Generation noch etwas lernen". Mag sein, dass damit die Haltung zur Macht gemeint ist. Es kann aber auch so verstanden werden: taktieren, lavieren, virtuos sein bei der Suche nach dem Kompromiss. Kaum jemand beherrschte diesen Politikstil so exzellent wie Genscher. Stets achtete er darauf, ein Eisen im Feuer zu behalten. Doch die Schattenseite dieser perfektionierten Schlitzohrigkeit bekam auch Genscher zu spüren: Der Sturz der beiden SPD-Kanzler Willy Brandt (1974) und Helmut Schmidt (1982) wurde ihm angelastet. Und speziell die "Wende" hin zum CDU-Kanzler Helmut Kohl brachte der FDP die größte Zerreißprobe ihrer Geschichte. Eine schwarz-weiße Fotografie zeigt einen schüchternen Jungen mit Segelohren, den sie zu Hause in Halle nur "Dieter" riefen. Damals litt er an lebensgefährlicher Lungentuberkulose. "Die Krankheit entschuldigt nichts", hat er mal gesagt. Nicht die im Kindesalter, nicht die, die er später als gestandener Mann mehr schlecht als recht überstand: Infarkte, Koliken, Schwächeanfälle. "Der Mann ist unwahrscheinlich zäh", beschreibt ihn sein enger Weggefährte Klaus Kinkel. "Der ist einem manchmal mit seiner Zähigkeit auf den Wecker gegangen." So sind aber auch die Menschen, die ihre Grenzen nicht wahrhaben wollen. Als palästinensische Terroristen am 5. September 1972 bei den Olympischen Spielen in München israelische Sportler als Geiseln nehmen, spürt Genscher vermutlich das erste Mal, was es wirklich heißt, machtlos zu sein.Ein neues Gefühl: Politische Ohnmacht

Er ist Bundesinnenminister, bietet sich als Ersatzgeisel an. Ohne Erfolg. Am nächsten Tag sind die israelischen Athleten tot. Seitdem kennt Genscher ein neues Gefühl in der handelnden Politik: Ohnmacht. Vielleicht passen Aufstieg und Fall seines Zöglings und Intimus Jürgen W. Möllemann ebenfalls in diese Kategorie. "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." - dieser berühmte Satz auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag vor tausenden DDR-Flüchtlingen ist hingegen der glücklichste Augenblick in Genschers politischem Leben. Genscher brachte diese Szene den Ruf des Friedens- und Freiheitsbringers ein. Aber sie steht für mehr: Sie ist ein Symbol für sein Gespür für weltpolitische Veränderungen. Er erkannte früher als andere, dass Gorbatschow nicht nur den real existierenden Sozialismus reformieren wollte. 1992 scheidet er aus dem Amt. Ein gut vorbereiteter Abgang: "Man soll mit dem Auto keine Vollbremsung machen und auch im Leben nicht", so Genscher. Heute feiert er seinen 80.

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