"Bürger vertragen mehr Wahrheit als die Parteien glauben"

BERLIN. "Wähler vertragen mehr Wahrheit, als Parteien glauben", sagt Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte. Er sieht im bevorstehenden Wahlkampf jene Parteien im Vorteil, die den Bürgern Orientierungssicherheit bieten. Mit unpopulären Maßnahmen ließen sich durchaus Mehrheiten gewinnen, wenn die Menschen den Eindruck hätten, von bösen Überraschungen verschont zu bleiben, meint der Professor.

Gegenwärtig ringen alle Parteien um ihre Wahlprogramme. Können Sie dabei schon klare Linien erkennen? Korte: Nehmen Sie das wichtigste Feld: die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Da geht noch vieles durcheinander, was aber nicht verwundern kann, da alle Parteien von der Ankündigung schneller Neuwahlen überrascht worden sind. Die amtierende Bundesregierung hat zuletzt alle Reformen gleichzeitig angepackt. Brauchen wir in der nächsten Wahlperiode eine Liste der politischen Prioritäten? Korte: Die Menschen brauchen einen übergeordneten Orientierungsrahmen, warum man wann, was für welches Ziel macht. Die Menschen sind nicht generell unzufrieden mit der Politik der Bundesregierung. Sie stören sich aber massiv an ihrem Zick-Zack-Kurs, der durch das rot-grüne Hantieren auf vielen politischen Baustellen noch verstärkt wurde. Die Parteien müssen klar sagen, was ihre Priorität gegenüber der Ökonomie ist. Diese programmatische Strategie ist viel wichtiger als ein paar Zahlen für Steuersenkungen in den Raum zu werfen. Wo sehen Sie die größte politische Baustelle nach der Wahl? Korte: Das ist zweifellos der Arbeitsmarkt. Hier erwarten die Leute Orientierungssicherheit von den Parteien. Denn es gibt so viele wirtschaftliche Gutachten, die sich zum Teil fundamental widersprechen. Wer sonst außer den Parteien könnte den Bürgern hier Orientierung geben? Sind die Probleme mittlerweile nicht so groß, dass die Parteien in ihren Lösungsangeboten zwangsläufig verwechselbar werden? Korte: Das sehe ich anders. Es ist ein Unterschied, ob ich mit der Lockerung des Kündigungsschutzes oder mit der Steuergesetzgebung beginne, oder mit einer weiteren Reform des Gesundheitssystems, um mehr Wachstum auszulösen. Das darf nicht beliebig sein. Hier kann der Wähler einen politischen Fahrplan erwarten. Ein Schwerpunkt des Wahlkampfs dürfte die künftige Ausgestaltung des Sozialstaats sein. Was raten Sie hier den Parteien? Korte: Wer die Realität nicht ignoriert, kommt an der ökonomischen Knappheit nicht vorbei. Die meisten Menschen sind mit einem Rückbau des Sozialstaats einverstanden, wenn es dabei fair und gerecht zugeht. Dies zu definieren, ist Aufgabe der Parteien. Die SPD setzt da eher auf Verteilungsgerechtigkeit, während der Ruf nach Chancengerechtigkeit eher bei der Union zu finden ist. CDU-Chefin Angela Merkel hat versprochen, dass die soziale Sicherheit in keiner Weise angetastet wird. Ist das realistisch?Korte: Jeder Bürger weiß doch, dass er es nicht mehr mit Wohltaten, sondern mit Zumutungen zu tun bekommt. Insofern hat Frau Merkel etwas ausgesprochen, woran ohnehin niemand glaubt. Das gilt übrigens auch für alle vollmundigen Ankündigungen zur Steuersenkung. Alle Umfragen belegen, dass kein Mensch davon ausgeht, am Ende einer solchen Operation wirklich entlastet zu werden. Jeder erwartet weniger, aber die Leute wollen wissen, wie lange die Durststrecke dauert. Wie viel Wahrheit kann sich eine Partei leisten, um noch gewählt zu werden? Korte: Mehr als die Parteien glauben. Mit unpopulären Maßnahmen lassen sich durchaus Mehrheiten gewinnen, wenn die Leute den Eindruck gewinnen, von bösen Überraschungen verschont zu bleiben. S Das Gespräch führte unser Korrespondent Stefan Vetter.

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