Schengen - Das Dorf, dessen Name Geschichte gemacht hat

Schengen · Was für Menschen aus Übersee oder aus Krisenregionen wie ein Teil des Paradieses wirkt, ist in der Großregion nur ein Luxemburger Dorf: Schengen.

 Schrilles Souvenir: EU-Sternseife in den Luxemburger Nationalfarben.

Schrilles Souvenir: EU-Sternseife in den Luxemburger Nationalfarben.

Foto: (g_pol3 )

Nüchtern betrachtet ist Schengen nur ein Dorf: 600 Einwohner, in der Mitte eine Tankstelle, ein Hotel, ein Restaurant, zwei größere Straßen, gelegen an der Obermosel, rundherum eingebettet in Weinberge. Aber das Dorf, Teil der inzwischen zur größten Luxemburger Weinbaugemeinde fusionierten Ortschaft Schengen, ist mehr: "Es ist auch die weltweite Vision vom Abbau der Grenzen entlang europäischer Staaten und des Abbaus von Schranken in den Köpfen der Menschen", sagt Martina Kneip, Direktorin des Schengener Tourismusverbunds und des 2010 eröffneten Europa-Zentrums. Dass ausgerechnet dieser kleine Winzerort, einer von vielen ähnlich aussehenden entlang der Mosel, die Wiege der engsten europäischen Verflechtung werden würde, hat auch damalige Staatslenker und ortsansässige Lokalpolitiker überrascht.

Zwar haben Archäologen in der Nähe Schengens das erste luxemburgische Dorf aus der Bronzezeit entdeckt, von daher also ein Ort mit großer Historie. Allerdings ist selbst der ehemalige Bürgermeister Roger Weber (von 2002 bis 2012) und 1985 konservativer Lokalpolitiker "erst mal an dem Schiff vorbeigefahren. Ich dachte mir noch: Warum steht das jetzt hier?" Schließlich hatten die erstunterzeichnenden Staaten auch "nur" ihre fünf Staatssekretäre auf die "MS Princesse Marie-Astrid" geschickt. "Alles wurde total unterschätzt", sagt Weber heute, "wer hätte denn ahnen können, dass da mal was Großes draus wird".

An der Grenze von Deutschland, Luxemburg und Frankreich gelegen, ein Schiff auf dem gemeinsamen Hoheitsgebiet "Mosel" schwimmend: Symbolisch hatte das Datum einiges zu bieten. Dass in Schengen jedoch das Friedensprojekt Europäische Einigung einen Meilenstein setzte, wird erst später klar. Was "nur" der Vertiefung des Binnenmarktes dienen und den freien Personenverkehr ermöglichen sollte, wird heute von 26 Staaten in Europa angewendet.

"Wir leben hier ohne Grenzen. Gäste wissen oft nicht, in welchem Land sie gerade sind", weiß Kneip, gebürtige Freiburgerin und verheiratet mit einem Luxemburger. Türken, Osteuropäer, Chinesen: Die rund 40 000 Besucher des Europazentrums seien umso beeindruckter, je weiter ihr Herkunftsort von Schengen entfernt liege. "Vor allem diejenigen, die nicht ohne Visum reisen dürfen oder lange durften oder keinen Pass hatten", sagt sie. Am beeindruckendsten sei bislang ein bulgarischer Journalist gewesen, der gesagt habe: "Es war der Traum meines Lebens hierherzukommen."

Umso mehr schockieren Martina Kneip nationalistische Tendenzen in Europa. Als Ende September 2015 der Vize-Präsident des rechtsextremen französischen Front National, Florian Philippot, im Vorfeld der Regionalwahlen in Frankreich einen Kranz in Schengen niederlegte, um damit symbolisch die Rückkehr der nationalen Grenzen innerhalb Europas zu feiern, "wurde mir erstmals bewusst, dass die das ernst meinen", sagt Kneip. Zwar gab es mit der Unterstützung von Luxemburger Politikern eine Gegendemo, allerdings befürchtet die Vorzeigeeuropäerin, "dass die Idee der Solidarität abhanden kommt. Viele junge Leute haben ja auch Grenzen nie erlebt". Heute sei eine Passkontrolle die Ausnahme, "wir dürfen das Friedensprojekt nie aus den Augen verlieren".DAS SCHENGENER ABKOMMEN

Extra

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Das erste Abkommen wurde am 14. Juni 1985 zwischen den Benelux-Staaten, Deutschland und Frankreich zum schrittweisen Abbau der Kontrollen an gemeinsamen Grenzen, "Schengen I" genannt, unterzeichnet. Darin wurde vereinbart, auf Personenkontrollen an gemeinsamen Grenzen zu verzichten. Die Umsetzung wurde am 19. Juni 1990 im "Durchführungsübereinkommen", auch "Schengen II oder SDÜ" genannt, festgelegt. Es tritt Ende März 1995 in Kraft. Die Schengen-Regeln des freien Grenzverkehrs wurden in der Flüchtlingskrise 2015 teils ausgesetzt: von Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen. Zum Schengen-Raum gehören 26 Staaten, darunter die Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island, die kein EU-Mitglied sind.

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