Das Singen verlernt man zuletzt In jedem Laden eine Spendenbox

Für an Demenz erkrankte Menschen sind Musik, Tanz und Spiel oft eine Brücke in Welten, zu denen sie den Zugang verloren haben. In Betreuungsgruppen schaffen solche Elemente eine gute Atmosphäre und helfen bei der Kommunikation.

 Musik und Tanz bescheren Demenzkranken höhere Lebensqualität: Impression aus dem Demenz-Zentrum in Trier. TV-Foto: Friedemann Vetter

Musik und Tanz bescheren Demenzkranken höhere Lebensqualität: Impression aus dem Demenz-Zentrum in Trier. TV-Foto: Friedemann Vetter

Wittlich/Trier. Heidi Müllen sucht Blick- und Körperkontakt. Nicht nur einen flüchtigen Moment lang, sondern sehr intensiv. Sie hockt sich vor jeden der Menschen im Stuhlkreis, nimmt seine Hand, schaut ihn an, singt ein Begrüßungslied. Und die Menschen, die an diesem dunkelgrauen Novembernachmittag in das Wittlicher St. Markus-Haus gekommen sind, schauen innig zurück, wollen die Hand kaum loslassen.

Für Frau Stevens (alle Namen Betroffener geändert) singt sie das Lied auf Englisch. Die gebürtige Amerikanerin lebt seit Jahrzehnten in Deutschland, konnte perfekt Deutsch. Aber durch die Demenz hat sie die angelernte Sprache komplett vergessen, doch die Muttersprache ist ihr geblieben.

Heidi Müllen, gelernte Altenpflegerin und Fachkraft bei der Caritas-Sozialstation Wittlich, kennt all die Lebensgeschichten in ihrer Gruppe. Auch die von Franz Schreiner, dem 95-jährigen Schneidermeister, der die Gruppe mit perfekt vorgetragenen Eugen-Roth-Gedichten unterhält und je nach Lust und Laune auch schon mal ein Chanson aus Brechts "Dreigroschenoper" dazwischenstreut. "Der Mann ist ein wandelndes Wittlich-Lexikon", flüstert eine der ehrenamtlichen Betreuerinnen. Dann wendet sie sich Frau Schäfer zu, der ehemaligen Lehrerin, die schon länger vor sich hin schimpft, weil ihr an diesem Nachmittag nichts so richtig gefallen will. "Wie soll ich nachher nach Hause kommen?", fragt sie, und die Betreuerin erklärt ihr geduldig, wer sie am Ende heimfährt. Der Dialog wird sich in der nächsten Stunde zehn Mal wiederholen.

Derweil stimmt Heidi Müllen zur Gitarrenbegleitung einen Kanon an. Alle singen mit, kaum jemand braucht das Textblatt. Auch nicht, als später die Kinder von der benachbarten Kita vorbeikommen und Martinslieder vortragen. Selbst die entlegenen Strophen bereiten den meisten kein Problem.

Die Musik, sagen Wissenschaftler, sei nicht nur geeignet, zur Lebensqualität Demenzkranker beizutragen. Sie könne auch, so heißt es in einer Broschüre der Landeszentrale für Gesundheitsförderung, "bestimmte Kompetenzen und somit ein selbstbestimmtes Leben zumindest in Teilen länger erhalten". Offensichtlich ist Musik, vor allem die aus Jugendtagen, auf einer Art emotionaler Festplatte im Gehirn verankert, die auch noch abrufbar ist, wenn andere Teile des Gedächtnisses längst versagen.

So gehört das gemeinsame Singen auch bei der Betreuungsgruppe im Trierer Demenzzentrum zum festen Standard. Die Atmosphäre gleicht ein wenig einem Kindergeburtstag, bei dem die Eltern noch für die Spiel-Animation zuständig sind. Eine Rolle, die hier Helga Müller übernimmt, eine eigens geschulte ehrenamtliche Mitarbeiterin. "Froh zu sein bedarf es wenig" singt man im Kanon, die Stimmung ist fast übermütig. Erika Kessler springt auf, tanzt durch die Runde. "Tanzen konnte ich schon mit sechs", sagt die Frau mit den langen grauen Haaren, und es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass sie schon als Schulkind mit frechen Zöpfen Mühe hatte, auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben.

Bei "Kein schöner Land in dieser Zeit" wird aber auch Frau Kessler besinnlich. Und Herr Stein, der alte Charmeur und Spaßvogel mit dem vollen weißen Haarschopf, lässt einen Moment lang die lustigen Sprüche sein und singt kräftig mit.

Fast schämt man sich als Betrachter ein bisschen, wie schnell man diese Menschen sonst auf ihren Status als Demenzkranke reduziert. Dabei sind sie alle unverkennbare individuelle Persönlichkeiten, trotz der Erkrankung.

Die Betreuer sind sich dessen bewusst. "Wei singe ma de zwätte Dääl", sagt Heidi Müllen in Wittlich. Viele ihrer Besucher sind mit Dialekt groß geworden. Es ist vor allem die menschliche Nähe, die ihnen hilft. Der Bedarf ist groß, aber es reicht nur zu vierzehntägigen Treffen, weil ehrenamtliche Helfer fehlen. Für Fahrdienste, fürs Kuchenbacken, fürs Dabei-Sein.

Ansonsten sind die Wünsche gar nicht so groß. Ein Satz Klangbausteine mit tiefen Tönen, ein eigenes Notenheft, ein paar Instrumente. Dabei könnte "Vergissmeinnicht" helfen.

Kontakt Wittlich: 06571/5005 oder 06571/149728. Kontakt Trier: 0651/4604747. Weitere Kontaktadressen veröffentlichen wir gebündelt in der kommenden Woche. (DiL) Das monatliche "Alzheimer-Café" in der Begegnungsstätte der Stadt Wittlich, Kasernenstraße 37, stellt sich am Samstag, 6. Dezember, ab 15 Uhr in den Dienst der guten Sache. Wer zu dem gemütlichen Beisammensein mit adventlicher Verköstigung kommen will, sollte sich bis Freitag beim Caritasverband unter 06571/149728 anmelden.

Der Kirmestanz in Badem hat zuzüglich "Aufstockungen" 150 Euro für "Vergissmeinnicht" erbracht. Vielen Dank!

Auch die Trierer Geschäftswelt reiht sich in die Reihe der Unterstützer für Demenzkranke und ihre Familien ein: Heute werden über die City-Initiative 130 Spendendosen an die Mitgliedsbetriebe verteilt. Jeder Einkäufer in der Innenstadt hat unsere Aktion ab sofort quasi greifbar nahe. Telefonaktion Bitte vormerken: Morgen, Freitag, von 16 bis 18 Uhr haben wir ein Experten-Telefon mit Ärzten eingerichtet, die medizinische Fragen rund um das Thema "Demenz - Vorbeugung, Erkennung, Behandlung" beantworten. Namen, Themenfelder und Telefondurchwahl morgen im TV. Eine weitere Experten-Runde zum Thema Pflege, Betreuung, Finanzhilfen, Alltagsleben mit Demenz ist für den 17. Dezember geplant.

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