Den Nerv getroffen

Wieder einmal liegen in der Koalition die Nerven blank: Diesmal sind die Renten-Vorschläge von NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) der Auslöser.

Berlin. Der Vorstoß von Jürgen Rüttgers mag politisch provozieren. Den Nerv der Bevölkerung hat der selbst ernannte Arbeiterführer aus Nordrhein-Westfalen allemal getroffen. Schon sein früheres Plädoyer, wer lange in die Arbeitslosenversicherung einzahlt, müsse im Bedarfsfall auch länger davon profitieren, entsprach dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden. Viel Kritik an einem längst gefassten Beschluss

Nach dem gleichen Muster funktioniert die aktuelle Forderung des CDU-Politikers: Wer lange Beiträge an die Rentenkasse entrichtet, soll im Alter auch mehr bekommen als nur die Grundsicherung. Dafür muss Rüttgers viel Kritik aus den eigenen Reihen einstecken. Allerdings wurde der gleiche Vorschlag schon auf dem Leipziger CDU-Parteitag Ende 2003 beschlossen, ohne freilich zu erläutern, was die Operation kostet. Nun ist es in unserem Rentensystem grundsätzlich so, dass sich die Höhe der Rente vor allem nach der Höhe der eingezahlten Beiträge bemisst und weniger nach der Einzahlungsdauer. Nach geltendem Recht müssen mindestens fünf Jahre lang Beiträge in die Rentenkasse fließen, um überhaupt in den Genuss einer Rente zu kommen. Dabei kann es im Extremfall passieren, dass ein Gutverdiener, der in diesem Zeitraum stets die Höchstbeiträge zahlt, eine bessere Rente erhält, als sein schlecht verdienender Nachbar, der 15 oder 20 Jahre lang geringe Beiträge abgeführt hat. Auf den ersten Blick scheint der Vorstoß von Rüttgers dieses sogenannte Äquivalenzprinzip zu verletzen. Das Rentenrecht kennt allerdings schon heute Ausnahmen vom Prinzip. Wer etwa Kinder erzieht oder seinen Wehrdienst leistet, für den springt der Staat mit Beitragszahlungen ein. So kommt es, dass neben den regulären Beiträgen jährlich noch etwa 80 Milliarden Euro zusätzlich aus Steuermitteln in die Rentenkasse fließen. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch eine Aufstockung von Mini-Renten rechtfertigen. Zumal das bis 1992 schon einmal geltende Praxis war. Wer damals 35 Versicherungsjahre nachweisen konnte, aber ein geringes Einkommen bezog, der erhielt trotzdem eine höhere Rente. Denn berechnet wurde sie auf der Basis von 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes. Das Modell erzeugte allerdings auch Ungerechtigkeiten. Denn ein Arbeitnehmer, der freiwillig in Teilzeit tätig war, wurde rententechnisch genauso behandelt wie ein Arbeitnehmer, der zur Vollerwerbstätigkeit "gezwungen" war. Das Verdienst von Rüttgers besteht darin, der Diskussion über Altersarmut eine konkrete Richtung gegeben zu haben. Zielt er doch auf einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt der Rentenwirklichkeit. Tatsächlich kann sich die heutige Rentnergeneration in ihrer übergroßen Mehrheit glücklich schätzen. Lediglich 2,4 Prozent gelten als bedürftig. Das heißt, sie sind auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Auch in der SPD wird jedoch eingeräumt, dass sich Altersarmut für bestimmte Bevölkerungsgruppen zum massiven Problem entwickeln könnte, falls der Staat nicht gegensteuert.

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