Der Horror wohnt nebenan

Harmloser Alltags-Unfall oder Spuren eines Verbrechens: Vor dieser Frage stehen oft Ärzte, die Kinder untersuchen. Die Mainzer Rechtsmedizinerin Bianca Navarro bietet fachkundige Hilfe an. Auf Einladung der Ärztekammer Trier stellte sie ihre Arbeit vor - in einem Vortrag, der niemanden kalt ließ.

Trier. Ärzte sind schon von Berufs wegen den Umgang mit manchem Anblick gewöhnt, der Normalsterbliche in die Knie zwingen würde. Trotzdem warnt Bianca Navarro ihre Kollegen ausdrücklich vor dem, was sie in den nächsten eineinhalb Stunden zeigen wird, zeigen muss. Zu Recht, wie sich später herausstellt.

Die Mitarbeiterin der Ambulanz beim rechtsmedizinischen Institut der Uni Mainz ist, wenn der Ausdruck in diesem Fall überhaupt zulässig ist, so etwas wie ein "Promi" der Forensik. "Welt" und "Zeit" schreiben über ihre Arbeit, das Deutsche Ärzteblatt widmet ihr Reportagen, Fernsehsender verpflichten sie exklusiv als Expertin.

Das mag daran liegen, dass die 33-Jährige nicht nur wie ein Filmstar heißt, sondern auch ein bisschen so aussieht. Aber alle Äußerlichkeiten enden in dem Moment, in dem Bianca Navarro ihren Laptop anwirft und Bilder aus ihrem Berufs-Alltag zeigt. Bilder von toten, misshandelten, sexuell missbrauchten und in den schrecklichsten Fällen sogar gefolterten Kindern.

Ein Schüttel-Syndrom: Da kann man vielleicht noch nachvollziehen, was in Menschen vorgegangen ist, die wehrlosen Kindern so etwas antun. Aber mit dem Fön zugefügte Brandmarkungen, systematisch gebrochene Knochen, vorsätzlich zugefügte Verbrühungen: "Da findet man keine Erklärungen mehr", sagt Navarro, "da geht es um pure Brutalität".

Dass an diesem Nachmittag 60 Ärzte und Fachkräfte aus der Region Trier zu ihrem Vortrag gekommen sind, hat freilich weniger mit den Extremfällen zu tun als mit einem Alltagsproblem. Wenn Kinder mit Blutergüssen, undefinierbaren Verletzungen oder ungewöhnlichen Verhaltensweisen in der Arzt-Praxis oder der Krankenhaus-Ambulanz auflaufen, stellt sich für den Arzt die immer gleiche Gewissensfrage: typische, altersbedingte "Schrammen" oder mögliche Spuren eines Verbrechens? Wer selbst Kinder hat, weiß, wie nahe das optisch beieinander liegen kann.

Bianca Navarro redet den Konflikt nicht klein, im Gegenteil: "Davon hängt unglaublich viel ab", sagt sie fast beschwörend, "und zwar in beide Richtungen". Übersieht ein Arzt Anhaltspunkte für Missbrauch oder Misshandlung, kann es schreckliche Folgen für das Kind haben. Schlägt er falschen Alarm, gerät ein Unschuldiger in üblen Verdacht.

Die Sache wird nicht einfacher durch die wachsende Zahl "schmutziger" Trennungs- und Scheidungsfälle. "Wir werden oft instrumentalisiert", wirft Professor Wolfgang Rauh, Chefarzt am Mutterhaus, ein. Immer öfter werden Missbrauchs-Vorwürfe zur Waffe im Rosenkrieg.

Aber das ist auch wiederum nur die eine Seite. "Kinder berichten sechs Mal vergeblich über einen Missbrauch, bevor ihnen jemand glaubt", zitiert Bianca Navarro aus einer Statistik. Fatal: Dass ihre Aussagen nicht ernst genommen werden, führt zur weiteren Traumatisierung.

Der Ausweg aus dem ärztlichen Dilemma: "So genau wie möglich hinschauen", rät die Rechtsmedizinerin. Vor allem, ob die Erklärung der Erwachsenen zu dem Verletzungs-Bild passt. Typische Schutzbehauptungen (Navarro zählt als "Klassiker" auf: gestürzt, ungeschickt an Möbel angeschlagen, Kontakt mit der Heizung, zu heiß gebadet, mit dem Kind auf dem Arm zu heftig gehüpft) lassen sich oft schon durch eine knappe Untersuchung widerlegen - oder eben bestätigen.

Wenn die Lage komplizierter ist, empfiehlt Bianca Navarro, ihre forensische Ambulanz hinzuzuziehen, die vom Land Rheinland-Pfalz gefördert wird. Letztes Jahr wurde sie in mehr als 100 Fällen kontaktiert, oft zunächst per Mail. Ein Foto ermöglicht eine erste Einschätzung, nötigenfalls macht sie sich sofort auf den Weg vor Ort. "Sie können mich 24 Stunden am Tag anrufen", versichert sie den Ärzten und verteilt wie zum Beweis ihre Handy-Nummer. Oft kommt es buchstäblich auf die Minute an, wenn verhindert werden soll, dass ein misshandeltes Kind seinem Peiniger wieder ausgeliefert wird.

Manchmal endet der Versuch in einer Katastrophe. In sachlichem Ton, aber um so eindringlicher schildert Navarro, wie sie sich vergeblich bemühte, Jugendamt und Polizei davon zu überzeugen, ein Kind mit mutmaßlichen Misshandlungsspuren nicht seiner Mutter zurückzugeben. Am nächsten Tag hatte die Frau ihr Kind getötet.

An solchen Stellen halten auch hartgesottene Mediziner hörbar den Atem an. Ebenso wie beim nachdrücklichen Plädoyer der Expertin für eine Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft bei allen Jugendämtern. "Da gibt es wirklich Fälle, wo wir nicht helfen können, weil von Freitagmittag bis Montagmorgen niemand erreichbar ist", sagt Navarro, und es klingt Fassungslosigkeit mit. Auch über den Mangel an Vernetzung, sei es innerhalb der Ärzteschaft oder zwischen den Ämtern.

Und noch eine Hoffnung muss sie ihren Zuhörern nehmen: Das schreckliche Bildmaterial, das sie mitgebracht hat, ist keine über Jahre zusammengetragene Sammlung von Gräueln aus aller Welt. Es sind ihre aktuellen eigenen Fälle, geschehen in Rheinland-Pfalz und Umgebung. Der Horror wohnt nebenan. Und beileibe, so ihre Erfahrungen, nicht nur bei Ungebildeten und "Asozialen".

Und wie hält man es aus, sich tagaus, tagein damit zu befassen? Bianca Navarros letztes Bild zeigt ihre eigene Tochter - ein hoffnungsvolles Motiv. "Es geht um die Kinder", sagt sie. Auch wenn sie die traurige Gewissheit hat, "dass wir es nie schaffen werden, alle zu retten".

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