Der Türklopfer kommt nicht

BERLIN. Die Bundesregierung will das Volk in vier Jahren mit einem neuen Verfahren zählen lassen. Mit Widerstand wie bei der jüngsten Zählung im Jahr 1987 rechnet diesmal niemand.

Auf einmal hatte das damalige Land Berlin 133 000 Einwohner mehr, München fast 90 000 weniger. Plötzlich lebten in der Bundesrepublik 600 000 Ausländer weniger als zuvor angenommen. Und die Zahl der Wohnungen musste von 25,9 Millionen um rund eine Million nach unten korrigiert werden. Zahlreiche Daten wurden nach der umstrittenen, heftig umkämpften und zum Teil boykottierten Volkszählung 1987 verändert oder revidiert. Das ist jetzt 19 Jahre her. Seit der letzten Erhebung ist viel passiert in Deutschland. Die Bundesregierung hat daher gestern beschlossen, dass sich die Bundesrepublik an einer EU-weiten Datenerhebung, an der neuen "Zensusrunde 2010/2011" beteiligen wird. So steht es auch im Koalitionsvertrag von SPD und Union. Doch die Art und Weise der Volkszählung war bislang strittig. Fest steht nun: "Der Türklopfer wird nicht kommen", so ein Sprecher des Bundesinnenministeriums zu unserer Zeitung. Die Angst vor dem "gläsernen Bürger" und dem allmächtigen Staat ging in den 80er-Jahren um, als die Volkszähler den Haushalten die Ankreuz-Bögen überreichten. Ursprünglich war die Erhebung schon 1981 geplant, sie wurde dann aber wegen gerichtlicher Klagen verschoben. Schließlich fällte das Bundesverfassungsgericht 1983 ein Grundsatzurteil zum Datenschutz, sodass die Fragebögen überarbeitet werden mussten, um mehr Anonymität zu gewährleisten. Demgegenüber gab es in der DDR die letzte Volkszählung 1981. Eine gesamtdeutsche Erhebung fehlt also.Der Staat braucht neue Zahlen

Ein Grund mehr für die Politik, in vier Jahren eine frische Datenerfassung vorzunehmen. Der Staat brauche dringend neue Zahlen, sagt Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Denn es gehe um Rentenlast, den Bedarf an Kindergärten, Schulen, Kliniken oder Altenheimen sowie um eine gerechte Steuerverteilung. Seit der letzten Erhebung gab es die Wiedervereinigung, den Zuzug von Ausländern, die Wanderungsbewegungen der Bundesbürger und die erheblichen demografischen Veränderungen. Das alles lässt die ohnehin schon veraltete Datenlage noch unschärfer erscheinen. Die Folgekosten sind immens: Experten glauben inzwischen an Planungsfehler und Fehleinschätzungen in Milliardenhöhe durch fehlerhafte Statistiken. Auch der Länderfinanzausgleich hängt von den Bevölkerungsdaten aus der Volkszählung ab - nach der Erhebung 1987 mussten die finanziellen Zuweisungen prompt um rund eine Milliarde Mark korrigiert werden. Mit Widerstand gegen die neue Erhebung rechnet in Berlin diesmal niemand. Denn die Bundesregierung hat sich für einen bequemen Weg entschieden, der die Angst des Bürgers vor dem Überwachungsstaat nicht unbedingt schüren dürfte: "Registergestützter Zensus" nennt sich das Verfahren, das angewendet werden soll und das auch noch weitaus billiger ist: Würde man wie 1987 mit Hausbesuchen vorgehen, müssten dafür 1,4 Milliarden Euro berappt werden. So kostet die neue Volkszählung den Steuerzahler "nur" 450 Millionen Euro. Bei der Registerauswertung wird besonders auf Daten aus den Meldeämtern zurückgegriffen. Nachprüfungen wird es laut Innenministerium aber geben, "wenn beim Abgleich der Register Fragen auftreten". Ergänzend soll es eine postalische Befragung der Gebäude- und Wohnungseigentümer geben. "Dagegen haben wir keine Einwände", sagt der Innenexperte der FDP, Max Stadler, auf Nachfrage. Auch der Datenschutzbeauftragte Peter Schaar hat gegen ein solches Verfahren "grundsätzlich" nichts einzuwenden. Und siehe da, selbst die Grünen, die vor knapp 20 Jahren den Widerstand gegen die Zählung anführten, sind altersmilde geworden - gestern gab es zustimmende Signale.

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