"Dialekt muss auf den Stundenplan"

TRIER. Dialekt sollte einen Platz im Stundenplan erhalten: Dafür plädiert der Sprachwissenschaftler Wolfgang Schulte. Im TV-Interview erklärt der Münchener Professor, was er sich davon verspricht und wie man seine Forderung in die Praxis umsetzen könnte.

Herr Schulze, Sie sind ein großer Fürsprecher von Dialekten. Was hat es für sich, "platt" zu reden?Schulze: Für sich allein genommen eigentlich nichts. Das Wichtige ist, dass der Dialekt seinen Stellenwert neben der Hochsprache bekommt. Menschen, die zweisprachig aufwachsen, haben eine größere kommunikative Kompetenz als Sprecher, die nur in einer Sprache groß werden. Was genau haben Kinder, die Dialekt lernen, anderen voraus?Schulze: Einerseits haben sie ein stärkeres Bewusstsein dem Hochdeutschen gegenüber. Kinder lernen die erste Sprache ungeregelt, ohne Normen. In der Hochsprache tauchen dann plötzlich solche Normen auf. Wer das Hochdeutsche als Zweitsprache lernt, begreift eher, dass es sich um ein genormtes System handelt. Er spricht oft besseres Hochdeutsch, weil er differenziert: Wenn ich in öffentlichen Zusammenhängen zu reden habe, dann spreche ich die Hochsprache, sonst meinen Dialekt. Und zum anderen haben Kinder, die mit Dialekt aufwachsen, viel mehr Wörter zur Verfügung. Sie können die Erfahrungen, die sie mit der Welt machen, sprachlich viel differenzierter beschreiben. Der Wortschatz im Dialekt ist größer und viel differenzierter als der der Hochsprache. Was hat es mit der früher immer wieder vertretenen These auf sich, Dialekt zu sprechen sei eher schädlich für Kinder?Schulze: Diese Ansicht resultierte daraus, dass man von oben aus dachte. Man sah die Hochsprache als die Norm, die alle Kinder zu erlernen haben. Dann war der Dialekt natürlich ein Störfaktor. Gleichzeitig hieß es, Kinder, die nur Dialekt sprechen, seien nicht in der Lage, anderswo zu leben und sich dort zu verständigen. Zudem sei der Dialekt angeblich nicht in der Lage, moderne Begriffe zu schaffen und sich in der modernen Welt auszudrücken. Sie fordern, in den Schulen Dialekt zu sprechen. Wie stellen Sie sich das vor?Schulze: Mir schwebt vor, dass man den Deutschunterricht teilt, vielleicht ein Drittel zu zwei Dritteln, und in diesem ersten Drittel den Kindern eine Art Selbsterfahrung ermöglicht. Sie sollten einen Freiraum erhalten, in dem sie in ihrem Dialekt schreiben lernen, wobei dann natürlich eine eigene Rechtschreibung produziert werden müsste. Sie sollen sich in ihren Dialekten - oder in ihren Sprachen, wenn es eine mehrsprachige Umgebung ist - ausdrücken, ihre Welt so beschreiben, wie sie es mit ihrer ersten Sprache gelernt haben. In unserer Region werden schon in Nachbardörfern unterschiedliche Dialekte gesprochen. Da dürfte sich Ihre Idee nur schwer umsetzen lassen.Schulze: Darin sehe ich nicht das Problem. Es sollte ja nicht so sein, dass die Kinder den einen Dialekt lernen sollen. Dann würde man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Die Kinder sollen vielmehr lernen, sich in ihrer primären Sprachkompetenz kreativ auszudrücken. Welche Zukunftschance haben Dialekte vor dem Hintergrund, dass sie sich einerseits immer mehr an das Hochdeutsche angleichen und zum anderen heute sehr viel weniger Leute als vor ein, zwei Generationen in der Lage sind, sie an ihre Kinder weiterzugeben?Schulze: Die traditionellen Dialekte haben natürlich keine sehr großen Chancen. Aber was Chancen hat, ist eine Weiterentwicklung dieser Dialekte, die Elemente der Hochsprache aufnehmen wird. Ob ein Dialekt besser oder schlechter durchkommt, hängt natürlich auch davon ab, inwieweit die Öffentlichkeit bereit ist, Dialekte wahrzunehmen und anzuerkennen - als vollgültige Sprachsysteme. Je mehr das passiert, desto größer ist die Überlebenschance der Dialekte. S Mit Wolfgang Schulze sprach TV-Redakteurin Inge Kreutz.

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