Die Kanzlerin macht einen Rückzieher

Brüssel · Angela Merkel bläst ihren Vorstoß ab, die Beitrittsgespräche der EU mit der Türkei förmlich abzubrechen.

Gefühlt liegt der deutsche Wahlkampf schon eine ganze Zeit zurück. Er war nicht gerade gespickt mit Unvergesslichem. Vielen dürfte aber dies in Erinnerung geblieben sein: Dem Herausforderer Martin Schulz (SPD) gelang es, Angela Merkel in einem an sich eher faden Fernsehduell wenigstens eine Positionsbestimmung abzuringen. Sie ließ sich zu einer klaren Ansage in Richtung Ankara hinreißen. Sie werde sich beim nächsten EU-Gipfel dafür einsetzen, so die Wahlkämpferin Merkel, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden. Das war vor der Wahl.
Jetzt ist nach der Wahl. Und der angepeilte Gipfel ist da. Beim Abendessen wurde das Thema Türkei aufgerufen.

Doch die Kanzlerin hat ihren Vorstoß abgeblasen. Nun macht sie sich nur noch dafür stark, dass die sogenannten Vorbeitrittshilfen, die jeder Beitrittskandidat bekommt, beschnitten werden. Laut Bundesfinanzministerium hat die Türkei zwischen 2007 und 2015 rund sechs Milliarden Euro von Brüssel bekommen. Schon im Vorfeld des Gipfels hatten deutsche Regierungskreise die Erwartungen gedämpft, Deutschland werde sich für einen förmlichen Abbruch der Beitrittsgespräche einsetzen. Es wurde darauf hingewiesen, dass dafür ein einstimmiger Beschluss unter den Staats- und Regierungschefs nötig sei.

Bevor der Gipfel losging, machte Merkel deutlich: "Ich habe darum gebeten, dass das Thema Türkei auf die Tagesordnung kommt." Die Entwicklung in der Türkei sei "nach unseren demokratischen Vorstellungen" sehr negativ einzuschätzen. Viele Deutsche seien verhaftet worden. Sie beobachte mit großer Sorge, dass sich die Rechtsstaatlichkeit in die falsche Richtung bewege. Sie werde sich dafür einsetzen, dass die Vorbeitrittshilfen eingeschränkt werden. Typisch Merkel: Sie prescht nicht vor. Sie wolle, sagt sie, sich erst die Positionen der anderen Staats- und Regierungschefs anhören. "Das geschlossene Agieren der EU ist die zentrale Anforderung". Wie aus deutschen Regierungskreisen verlautet, liegt es nun bei der Kommission, einen konkreten Vorschlag zu machen.

Merkel sendet aber noch eine zweite Botschaft in Richtung Türkei. Sie will unbedingt an dem Flüchtlingsabkommen festhalten, das maßgeblich zu einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen in Europa beigetragen hat. "Die Türkei leistet hier Außergewöhnliches", sagt Merkel. Sie bekennt sich zu den Verpflichtungen, die die EU hier eingegangen ist. Die EU habe bereits drei Milliarden Euro an die Türkei bezahlt und werde, wie verabredet, die weiteren drei Milliarden Euro auch zahlen. "Dieses Geld kommt den Flüchtlingen zugute."

Noch eine zweite Operation wird in Brüssel abgeblasen. Das Brexit-Drehbuch der Kommission sah vor, dass bei diesem Herbst-Gipfel die zweite Verhandlungsphase beginnen sollte. Um im Zeitplan zu bleiben, hätten die Unterhändler die Kapitel Bürgerrechte, Finanzen und Irland ausverhandelt haben müssen. Doch davon kann keine Rede sein. Daher soll nun frühestens beim nächsten Gipfel im Dezember der Startschuss für Phase II kommen, in der über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem scheidenden Mitglied Großbritannien gesprochen wird.

Doch beim Thema Brexit hat sich die deutsche Tonlage etwas verändert. Mittlerweile wird von deutscher Seite das Verhandlungsszenario nicht mehr in düsteren Farben gezeichnet. Merkel erkennt ausdrücklich an: "Es sind Fortschritte gemacht worden." Das sei ermutigend. In deutschen Regierungskreisen klingt es sogar noch ein wenig optimistischer: "Wir finden, dass vor allem im Bereich der Bürgerrechte schon eine Menge passiert ist." Die Finanzfragen seien vielleicht gar nicht so wichtig.

Die Botschaft ist klar: Die EU der 27 dürfe sich mit London nicht über die Ablösesumme zerstreiten. Auf einige Milliarden mehr oder weniger komme es nicht an. Aus deutscher Sicht sind Zukunftsfragen viel wichtiger. Da geht es um die Perspektiven für deutsche Unternehmen. Im Entwurf für das Schlussdokument des Gipfels, das unserer Zeitung vorliegt, klingt die Passage zu den Brexit-Verhandlungen recht versöhnlich: Da wird explizit anerkannt, dass London seinen eingegangenen finanziellen Verpflichtungen nachkommen wolle. Doch für den Durchbruch fehle noch etwas: Die Bereitschaft zu zahlen muss "übersetzt werden in eine konkrete Zusage".

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