Die Lust an der Angst

TRIER. Was er vor mehr als 500 Jahren voraussagte, ist noch heute für viele Menschen eine unverzichtbare Hilfe: Michel de Notredame, besser bekannt als Nostradamus.

Die Ermordung eines Papstes, der Dritte Weltkrieg, der Untergang der Menschheit. Diese Szenarien stehen uns noch bevor, glaubt man den Prophezeiungen des in der Provence geborenen Nostradamus. Berühmt wurde er vor mehr als 500 Jahren mit den Worten: "Der junge Löwe überwindet den alten auf kriegerischem Feld im Einzelwettkampf. Im goldenen Käfig wird er ihm die Augen ausstechen. Von zweien dann stirbt einer eines grausigen Todes." Am ersten Juli 1559 kam bei einem Turnier Heinrich II. ums Leben. Sein Gegner hatte ihn tödlich verwundet, nachdem seine Lanze abgebrochen und dieses Ende ins Auge des Königs eingedrungen war. Weil der Astrologe und Pestarzt Nostradamus den Turnier-Tod voraussagte, wurde er seither von vielen Menschen als der Seher schlechthin betrachtet und geachtet - bis in unsere Zeit. Bereits zu Lebzeiten beschäftigten sich aber auch Kritiker wie William Fulke mit Nostradamus' "Nichtvorhersagen". Wahrsagerei als Religions-Ersatz

Allen kritischen Stimmen zum Trotz ist auch Jahrhunderte nach Nostradamus' Tod die Bewunderung für sein düsteres Werk nicht abgerissen. Harald Baer von der katholischen sozialethischen Arbeitsstelle in Hamm (Nordrhein-Westfalen) erklärt sich die Faszination der Menschen damit, dass sie "eine Lustangst beim Lesen dieser Texte" empfinden. "Nostradamus war kein Prophet, er hat die Schrecken seiner Zeit in dunklen Bildern beschrieben", sagt Baer. Im Internet befassen sich zahlreiche Seiten mit Leben, Wirken und Aussagen Nostradamus‘. In Internet-Foren diskutieren seine Anhänger die Voraussagen, und in den Buchläden sind die Werke rund um den Seher wahre Dauerbrenner - von Übersetzungen der in Vierzeilern niedergeschrieben "Centurien" bis hin zu biografischen Texten werden sie immer wieder neu aufgelegt. Günter Krampen, Psychologie-Professor an der Trierer Universität und Direktor des Zentrums für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID), betrachtet die Wahrsagerei als "Ersatz einer Religion". Menschen, die an Voraussagen glauben, sähen darin eine Vereinfachung ihres Lebens, indem sie auf "die Kompetenzen des anderen vertrauen". Häufig seien es Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl, die sich an solche Glaubenssysteme hielten, sagt Krampen. Harald Baer betrachtet die düsteren Voraussagen Nostradamus‘ als "eine Projektionsfläche für kollektive und Individuelle Ängste". Die Menschen, die auf die "Centurien" bauen, "glauben, etwas Geheimnisvollem auf der Spur zu sein", so Baer. Außerdem wittert er bei der Vielzahl der Deutungen "Geschäftemacherei".

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