Die Zeit nach der Tat wird zur Qual

TRIER. Die Opfer leiden, die Beschuldigten kämpfen meist mit allen Mitteln für ihre Unschuld. Missbrauchs-Verfahren dauern häufig sehr lange. Grund: Viele Zeugen, Gutachten und aufwändige Ermittlungen.

Die Mutter versteht die Welt nicht mehr: "Der läuft immer noch frei herum." Ihre beiden fünf- und neunjährigen Töchter wurden von einem Nachbarn unsittlich berührt und missbraucht. Obwohl er alles gestanden hat, wird er nicht inhaftiert: keine Fluchtgefahr. "Die Mädchen mussten immer an seinem Haus vorbei, das war unerträglich", beklagt sich die Mutter. Ständig werden die Kinder an das Schreckliche erinnert. Anfang des Jahres zieht die Familie aus dem kleinen Dorf weg in einen anderen Teil des Kreises. Nun warten sie - fast ein Jahr nach der Tat - auf den Gerichtstermin. "Das ist eine Qual für die Opfer, wenn der Beschuldigte nach einer Anzeige nicht in Haft kommt", sagt die Anwältin Ruth Streit-Stifano. Sie begegnen ihm womöglich täglich, weil er Nachbar ist oder zur Familie gehört. Sie haben Angst, dass er ihnen wieder was antut. Und solange der vermeintliche Täter zu Hause ist, womöglich jeden Tag noch arbeiten geht, eben ein ganz normales Leben führt, fällt es Außenstehenden schwer, zu glauben, dass dieser "nette, liebenswürdige" (Streit) Mensch ein Kind oder eine Frau missbraucht haben soll. "Viele Täter verdrängen einfach auch die Tat und verhalten sich ganz unauffällig." Nicht jeder Beschuldigte eines Missbrauchs kommt in Untersuchungshaft: Ist er geständig, lebt in einer intakten Familie, arbeitet, gibt es keine Anzeichen für Flucht oder Beweisvernichtung, dann besteht die Möglichkeit, dass er auf freiem Fuß bleibt. Wird eine U-Haft angeordnet, dann sind die Gerichte gezwungen, den Prozess innerhalb eines halben Jahres zu eröffnen. Für schnelle Bearbeitung zu wenig Personal

Daher werden die Haftsachen mit Hochdruck von den Ermittlern und Gerichten bearbeitet, die anderen Verfahren müssen geschoben werden. Es fehlt der Justiz an Personal, um den Prozess-Berg zeitnah abzubauen. Außerdem sind gerade bei sexuellem Missbrauch meistens aufwändige Ermittlungen nötig, falls der Angeklagte nicht geständig ist: Vernehmung des Opfers, der Eltern, Verwandter, Bekannter, Vernehmung des Beschuldigten. Häufig werden Glaubwürdigkeitsgutachten vom Opfer gefordert, und auch der Beschuldigte kann begutachtet werden, das Jugendamt wird angehört. "Ein Beschuldigter kann nur verurteilt werden, wenn er unzweifelhaft als Täter überführt ist. Das führt eben zu einer langen Verfahrensdauer", sagt Armin Hardt, Sprecher des Trierer Landgerichts. Wie die Verfahren beschleunigt werden können, weiß er nicht. Neun Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen wurden im vergangenen Jahr am Trierer Landgericht an 18 Tagen verhandelt, sieben Mal an 13 Verhandlungstagen mussten die Richter Urteile wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung von Frauen sprechen. "Richten sich die Missbrauchsvorwürfe gegen Familienmitglieder oder Verwandte, dann steigt die Zahl der Zeugen. Oft verweigern diese auch die Aussage", erklärt Fabian Scherf vom Mainzer Justizministerium. Und je mehr Zeugen angehört werden, desto länger dauert das Verfahren. Aber auch die Tatsache, dass der erste Gerichtstermin manchmal zwei Jahre nach der Anzeige liegt, führt gerade in Missbrauchsfällen zu längerer Verfahrensdauer: Mit der Zeit verblassen die Erinnerungen des Opfers und der Zeugen, weitere Gutachten müssen möglicherweise eingeholt werden. Ein Teufelskreis. Und Leidtragende sind die Opfer. Das Geschehene werden sie vermutlich ein Leben lang nicht vergessen. Doch so lange der Täter nicht verurteilt ist, haben sie keine Chance, es zu verarbeiten. "Wir können nicht von Opferschutz reden, wenn ein, zwei Jahre vergehen, bis es zu einem Prozess kommt", beschwert sich die Anwältin und fordert mehr Personal für die Gerichte, damit die Verfahren beschleunigt werden können. Auch der Weiße Ring fordert ein schnelles Handeln. "Die Opfer verlieren das Vertrauen in die Justiz", sagt Helmut K. Rüster, Sprecher der Opferhilfs-Organisation. Die Zahl der Missbrauchsfälle nehme zu, die Verfahren würden umfangreicher, die Wartezeiten für die Opfer unerträglich. "Die Politik muss Geld in die Hand nehmen, wenn sie den Opferschutz ernst nimmt. Wir brauchen mehr Personal in den Gerichten."

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