Die haarige Passion für die Passion

Wintrich · Ein Jahr lang "aussehen wie ein Lump" und den Hals nicht mehr waschen müssen

Es fängt an wie ein Witz: Geht ein Mann in Wintrich zum Friseur. Der grau melierte Bärtige hat nach erfolgreichem Haarschnitt das Portemonnaie nicht zur Hand. Die Friseurin nimmt es locker: "Kein Problem, dann zahlen Sie beim nächsten Mal." Ihre aus dem Saarland angereiste Freundin ist erschrocken: "Schau doch, wie er aussah, wie ein Lump! Das Geld siehst du im Leben nicht wieder." Friseurin Nicole Marx lacht und weiß: "Doch, doch, das war unser Bürgermeister Dirk Kessler, die sehen bei der Passion immer so aus." Eine Gruppe in Wintrich opfert nicht nur die eigene Zeit, sondern stellt sich dem Spott von Kollegen auf der Arbeit oder schiefen Blicken im Alltag - die Männer verlottern regelrecht gemeinsam für das große Ziel einer authentischen Vorstellung der Passion: Denn sie lassen sich ihren Bart und die Haare über ein Jahr wachsen.

Klaus Kessler spielte 1952 das erste Mal bei der Passion mit, im Alter von sechs Jahren. Als einer der ältesten Teilnehmer ist er die haarige Passion immer noch nicht leid: "Vor fünf Jahren war ein Ehepaar hier in Wintrich während der Passionszeit im Urlaub und hat gesagt, sie haben noch nie so viele schlecht rasierte Männer gesehen wie hier in Wintrich. Ich brauche mir den Hals nicht regelmäßig zu waschen, und das Hemd kann ruhig einen dreckigen Kragen haben." In den 50ern sei der Anblick nicht so authentisch gewesen. "Die Männer sahen mit angeklebten Bärten und Haaren aus wie Räuber Hotzenplotz." Auch an freie Oberkörper sei damals nicht zu denken gewesen, alle Darsteller trugen weiße Hemdchen. Heute lebe das Stück von der Authentizität.

Zum einen rücken die haarigen Leidensgenossen zusammen, aber auch wer nicht direkt ins Theaterspiel involviert ist, nimmt in Wintrich großen Anteil - selbst eine Dame, die eigentlich so gar kein Fan sein könnte: Nicole Marx, die einzige Friseurin im Ort: "Beruflich ist es für mich eine Katastrophe". 20 bis 25 Prozent Umsatzeinbußen machten die Passionsspiele für sie aus. Denn ein großer Teil ihrer Stammkunden kommt in der Passionszeit nicht. Trotzdem befürwortet sie die Spiele: "Es ist eine gute Werbung und bringt Leben ins Dorf." Übrigens kam ein ganzes Kilogramm Haare 2007 nach den Passionsspielen zusammen. Marx machte sich den Spaß und wog alle Haare und Bärte der Passionsspieler, denen die Friseurin wieder einen neuzeitlichen Look verpasste. Weitere bärtige Transformationen, wie hier (Fotos links) Klaus Kessler und Jonas Merges, lassen sich in der Multimedia-Reportage bestaunen.

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