Die rote Resignation

BERLIN. Als der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering gestern während seiner Pressekonferenz im Willy-Brandt-Haus den Satz sagte: "Die SPD wird gebraucht”, huschte ihm ein breites Grinsen über das blasse Gesicht. Das klang schon fast wie schwarzer Humor.

Müntefering wusste wohl selbst, dass seine Einschätzung von den Ergebnissen des Sonntags irgendwie ad absurdum geführt wurde - hatten die Sozialdemokraten doch bei der Europawahl das historisch schlimmste Ergebnis bei einem bundesweiten Urnengang eingefahren. Und in Thüringen war die SPD vom Wähler fast zur Splitterpartei degradiert worden - "Projekt 18” Marke FDP ließ grüßen. Am Tag danach spiegelte "Müntes” Satz aber wohl am besten die Hilf- und Ratlosigkeit der Genossen wider, mit dem Wahldebakel umzugehen. Das Spitzenpersonal bot ein Bild des Jammers, keine Spur von "jetzt erst recht”. Stattdessen regierte die rote Resignation. "Schlimmer geht's nimmer”, kommentierte Wirtschaftsminister Wolfgang Clement das Desaster sondergleichen. Zwar hatten die Parteistrategen mit einer Niederlage bei beiden Wahlen gerechnet, dass aber ein Tornado über die SPD hinweg fegen würde, davon war niemand ausgegangen. "Ein Schlag in die Magengrube”, meinte ein anderes Präsidiumsmitglied konsterniert. "Was nun?” war deshalb gestern die mit am häufigsten gestellte Journalistenfrage. Mehr als die immer gleichen Antworten fiel den Genossen allerdings nicht ein: "Wir müssen das sozialdemokratische Profil besser herausstellen”, antwortete zum Beispiel Entwicklungshilfe-Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Das klang nicht nach Aufbruch. Müntefering selbst befand: "Wir müssen erreichen, dass deutlich wird, dass von der Agenda 2010 alle profitieren.” Es gebe kein Vermittlungs-, sondern ein Akzeptanzproblem. Der SPD-Chef hofft jetzt vor allem auf den Faktor Zeit, also darauf, dass sich die Erfolge der Agenda-Maßnahmen in den nächsten Monaten einstellen.Forderung nach Kabinettsumbildung

Ähnlich äußerte sich auch der Kanzler während der Präsidiumssitzung. "Ich kann nur diese Politik weiterführen; ich will nur diese Politik weiterführen”, hatte Gerhard Schröder bereits auf dem Weg ins Willy-Brandt-Haus verkündet. Es gebe keine "wirklich vernünftige Alternative” zur Agenda 2010, so der Niedersachse. Nur: Reicht diese Devise noch aus? Was ist, wenn die Erfolge weiter ausbleiben? Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Michael Müller verlangte gestern (wie einige andere) "eine kritische Debatte über die Rolle des Kabinetts”, was der Forderung nach einer Kabinettsumbildung gleichkam. Wer sich jedoch auf die Ministerriege einschießt, meint indirekt auch immer den Kanzler, der von neuen Gesichtern in seiner Regierung (noch) nichts wissen will. Interpretiert man weiter, kommt man schnell zu der prekären Frage: Kann die SPD mit Gerhard Schröder im Kanzleramt überhaupt noch einmal auf die Beine kommen? Die Grünen sind schließlich auch Regierungspartei und locken den Wähler mit ihrem Leuchtturm Joschka Fischer mehr denn je. Solche und andere Personalprobleme hat die Union derzeit nicht. Seit dem Superwahl-Sonntag sitzt die CDU-Vorsitzende Angela Merkel noch fester im Sattel, denn ihr Konzept, bei der Europawahl auf die Unzufriedenheit der Bürger mit der Bundesregierung zu setzen und auf europapolitische Themen weitgehend zu verzichten, ging klar auf. So widersprach sie gestern besonders gelassen ihrem bayerischen Gegenspieler, CSU-Chef Edmund Stoiber. Er hatte die Schröder-Regierung indirekt zum Rücktritt aufgefordert. In der Union wird die Chance vorgezogener Neuwahlen jedoch eher als gering angesehen. Die rot-grüne Koalition sei zwar in einer "schon bedenklichen Situation”, kommentierte Merkel, sie stelle sich aber "auf eine Legislaturperiode bis 2006 ein”. Im Oppositionslager reibt man sich nun die Hände und hofft, dass die Kluft zwischen Reformbefürwortern und dem linken Flügel in der SPD wieder tiefer wird. Aus gutem Grund: Bislang hat die miserable Lage der Genossen die konzeptionellen Probleme und die Kakophonie im Lager der Union bestens überdeckt - und nach dem Willen der CDU-Vorsitzenden soll das auch so bleiben.

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