Die unbequemen Unbekannten

BERLIN. Seit zwei Monaten erlebt die Republik einen merkwürdigen Wahlkampf: Eigentlich gibt es ihn gar nicht. Die Kandidaten sind sich noch nie begegnet, über einander reden sie kein Wort, aber sie haben ein Ziel - deutsches Staatsoberhaupt zu werden.

"Horst wer?", hatte die "Bild" Anfang März über den Favoriten von Union und FDP, Horst Köhler getitelt. Seiner Nominierung war ein unsägliches innerparteiliches Gezerre voraus gegangen. Scheinbar mühelos zauberte die Regierungskoalition dagegen Gesine Schwan aus dem Hut. Auf sie hätte die "Bild"-Schlagzeile ebenfalls gut gepasst. Der Chef des Internationalen Währungsfonds war seit sechs Jahren im Ausland und der Finanzwelt ein Begriff. Die Präsidentin der Europa-Uni in Frankfurt/Oder machte vornehmlich in Wissenschaftskreisen von sich reden. Mittlerweile sind die Unbekannten fassbarer geworden. Beide warten mit verblüffenden Bemerkungen auf, die das eigene Lager nicht selten irritieren. Genau darin liegt der Reiz dieser Auseinandersetzung: Die Unbekannten sind unbequem, weil sie sich ins Tagesgeschäft einmischen wie kaum bei einer Präsidentenkür zuvor. "Ich hab keinen Maulkorb: Ich kann sagen, was ich denke", sagt Gesine Schwan selbstbewusst. Das Gleiche nimmt Horst Köhler für sich in Anspruch. In der Union wird dem ehemaligen Staatssekretär unter Finanzminister Theo Waigel die Fähigkeit zur "kalkulierten Provokation" bescheinigt. "Er spricht klar aus, was wir nicht sagen können", befindet ein CDU-Mann. So war das zum Beispiel, als Köhler Parteichefin Angela Merkel zur Kanzlerin für 2006 ausrief und damit Edmund Stoiber vors Schienbein trat. Sein spektakulärster Coup ist die harsche Kritik an der amerikanischen Irak-Politik. Dadurch geriet Merkel in die Bredouille, weil sie sich immer mit wehenden Fahnen vor die Bush-Administration gestellt hatte. Inzwischen beherrscht Köhler allerdings auch die Kunst der Relativierung. Eklatante Schnitzer wie in den ersten Kandidaten-Tagen würden ihm heute wohl nicht mehr unterlaufen. Damals begründete der 61-Jährige seinen Wechsel vom gut dotierten Staatsdienst in die noch besser bezahlte Wirtschaft mit dem Hinweis, dass seine behinderte Tochter im Alter ein Auskommen haben müsse. Auch sein klares Plädoyer für einen weiteren Sozialabbau gab Befürchtungen Nahrung, hier empfehle sich ein kalter Technokrat und Zahlenjongleur, der die Republik mit einer Bank verwechsele. Und Gesine Schwan? Natürlich hält die 60-Jährige Reformen für dringend geboten. Aber sie versucht, die Dinge auf andere Weise unters Volk zu bringen: Wenn es zu tief greifenden Veränderungen komme, müsse jeder verstehen, "wohin die Reise gehen soll". Solche Spitzen zielen auch auf Gerhard Schröder und seine "Agenda 2010", die sich im politischen Klein-Klein zu verlieren droht. Auch zur Unternehmerschelte des Kanzlers ging Schwan deutlich auf Distanz: Es sei "unsinnig", deutsche Arbeitgeber als "vaterlandslose Gesellen" zu bezeichnen, wenn sie ihre Produktion ins Ausland verlagerten. Neue Märkte würden Deutschland nützen.Beide pflegen gerne die gezielte Provokation

Kein Zweifel, Gesine Schwan pflegt ebenfalls die Provokation. Und zuweilen schießt auch sie dabei übers Ziel hinaus. Als CSU-Generalsekretär Markus Söder kürzlich eine Rückbesinnung auf "deutsche Tugenden" wie Leistungsbereitschaft und Disziplin einforderte, konterte die rot-grüne Kandidatin, solche Eigenschaften seien in der deutschen Geschichte schon "fürchterlich missbraucht" worden. "Man kann auch sehr fleißig sein und diszipliniert töten." Für eine ähnliche Äußerung musste sich der SPD-Politiker Oskar Lafontaine einst entschuldigen. Am Ende wird es freilich nicht mehr darum gehen, wer von beiden Kandidaten was und wie gesagt hat. In der Bundesversammlung ist das Kräfteverhältnis eindeutig. Union und FDP verfügen über 19 Stimmen mehr, als zur absoluten Mehrheit nötig wären. Gesine Schwan bleibt nur die Hoffnung auf einige Abtrünnige. "Wenn ich keine Chance sähe, wäre ich doch gar nicht erst angetreten."

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