Durchbruch am Telefon

Einmütig beschlossen hat gestern das Kabinett in Berlin einen Kompromiss zum Mindestlohn.

Berlin. Im Juni schon glaubte sich Olaf Scholz (SPD) "kurz vor dem Abschluss", doch dann wurde es noch ein zähes Ringen um den Mindestlohn. Am Dienstagabend fand es seinen Höhepunkt in zahlreichen Telefonaten, die Scholz aus seinem Hamburger Haus abwechselnd mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) führte. Gegen 22 Uhr war der Durchbruch erzielt, und das Kabinett konnte gestern die Mindestlohn-Gesetze einmütig beschließen. Der mehr als eineinhalb Jahre andauernde Koalitionsstreit ist damit aber noch nicht endgültig beendet. Denn die Frage, welche Branchen konkret den Regelungen unterliegen, soll erst im Zuge der parlamentarischen Beratungen zwischen den Fraktionen geklärt werden. Mit den beiden Rahmengesetzen, dem reformierten Entsendegesetz und dem Mindestarbeitsbedingungsgesetz, aber ist Scholz höchst zufrieden. "Das ist ein guter Tag für viele Arbeitnehmer, die hart arbeiten und wenig verdienen. Und es ist ein guter Tag für die Koalition." Er würde nicht einmal andere Bestimmungen wollen, wenn es eine rot-grüne Regierung gebe, fügte er hinzu.

Weniger harmonisch klang CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla. Der Union sei es gelungen, die "Kernforderung" der SPD, nämlich die Einführung eines flächendeckenden generellen Mindestlohns für alle, zu verhindern, triumphierte er. Zunächst war die SPD im vergangenen Jahr schwer enttäuscht gewesen, dass die Union sich einem allgemeinen Mindestlohn verweigerte. Jedoch hatte Scholz' Vorgänger Franz Müntefering schnell die Chance erkannt, die für seine Partei in dem anderen Weg lag. Wenn Branche für Branche entschieden werde, könne sich die SPD jedes Mal profilieren, war das Kalkül. Bei der Kabinettsklausur im vergangenen Sommer erreichte Müntefering den Beschluss, die beiden Gesetze zu reformieren.

Die Union versuchte seitdem mit vielen Einzelbedenken, die meist Wirtschaftsminister Glos vorbrachte, das Vorhaben zu blockieren. Doch Angela Merkel wollte das Thema nun deutlich vor Beginn des Bundestagswahlkampfes "vom Tisch haben", wie es in Unionskreisen hieß. Sie lenkte ein.

Vor allem der Mindestlohn bei den Briefträgern saß der Union in den Knochen. Die Post hatte einen relativ hohen Tariflohn mit den Gewerkschaften vereinbart und erreicht, dass dieser für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Der konkurrierende viel niedrigere Tarifvertrag der privaten Briefdienstleister unterlag. Glos erkannte darin den Versuch, über hohe Mindestlöhne ein Monopol zu sichern. Das Vorgehen bei mehreren konkurrierenden Tarifverträgen war denn auch der letzte große Streitpunkt. Die SPD wollte vermeiden, wie Scholz sagte, dass "neu gegründete, willfährige Gewerkschaften" den Mindestlohn mit niedrigen Abschlüssen bestimmen, die Union einen Monopolanspruch der DGB-Gewerkschaften verhindern. Der Kompromiss ist nun die schwammige Formulierung, dass die "Repräsentativität" des Tarifabschlusses gewährleistet sein muss und eine "Gesamtabwägung" der verschiedenen Tarifverträge zu erfolgen hat. Zudem erreichte Glos, dass vom Staat festgesetzte Mindestentgelte nach dem Mindestarbeitsbedingungsgesetz auch befristet verordnet werden können. Und laufende Tarifverträge, die solche Mindestentgelte unterbieten, gelten fort, sie können sogar erneuert werden. Das fand der DGB gestern "den großen Pferdefuss" der Regelung.

Acht Branchen haben sich bereits gemeldet und eine Aufnahme in das Entsendegesetz beantragt: Zeitarbeit, Wachgewerbe, Textildienstleister, private Forstdienste, Altenpflege, Weiterbildung, das kommunale Entsorgungsgewerbe und Bergbauspezialarbeiter. Sie umfassen insgesamt rund 1,8 Millionen Arbeitnehmer.

Welche Branche die Kriterien des Gesetzes erfüllt, wird nun zwischen den Fraktionen bis zum Herbst diskutiert. Vor allem bei der Zeitarbeit werden erhebliche Auseinandersetzungen erwartet, wenngleich Scholz meinte, nach der "Logik" des Gesetzes dürfe es hier keine Probleme geben. Für den Bau, die Gebäudereinigung und die Briefdienste mit insgesamt 1,8 Millionen Beschäftigten sind Mindestlöhne per Entsendegesetz bereits gültig.

Meinung

List der Geschichte

Es ist mitnichten ein Beleg für die Kraft der Großen Koalition, dass sie nach jahrelangem Ringen einen Kompromiss bei den Mindestlöhnen gefunden hat, den man als gut bezeichnen muss. Denn beide Partner wollten die nun erreichte Regelung ursprünglich nicht. Zudem ist die Schlacht noch nicht entschieden. Die Grundlinien sind geklärt, doch nun beginnt der Häuserkampf um jede einzelne Branche. Der gestrige Kompromiss ist ein Ausgang, mit dem beide Partner im Wahlkampf arbeiten können. Der allgemeine Mindestlohn kommt nicht, kann die Union verkünden. Sie hat Arbeitsplätze und Wirtschaftsdynamik gerettet, indem sie dies verhinderte. Der Mindestlohn kommt doch, kann die SPD sagen, dann nämlich, wenn es gelingt, nach und nach alle problematischen Branchen über eines der beiden Gesetze zu erfassen. Sie hat damit etwas für den sozialen Zusammenhalt getan. Unter dem Strich hat das lange, zermürbende Tauziehen auf diese Weise unerwartet ein Ergebnis gebracht, das dem Wirtschaftsstandort Deutschland nicht schadet und zugleich seine soziale Lebensqualität erhöht. Das nennt man List der Geschichte. nachrichten.red@volksfreund.de

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