Ein Fossil und sein Kopf-Implantat

TRIER. Wirtschaftsflaute, Arbeitslosigkeit, Armut - die Probleme türmen sich, und wer die Zeitung aufschlägt, kann sich bisweilen eines Ohnmacht-Gefühls kaum erwehren. Gleichsam überraschend wie wohltuend ist da Björn Engholms These: "Die Welt zu verbessern ist möglich." Wie? Das erklärte der Ex-Politiker bei einem Vortrag in Trier.

Björn Engholm leitet den Beirat der Uni Lübeck, in deren Hörsälen künftige Mediziner sitzen. Das mag der Grund dafür sein, dass der ehemalige sozialdemokratische Spitzenpolitiker gern zu entsprechendem Vokabular greift. "Ich möchte etwas in die Köpfe implantieren", sagt er bei seinem Vortrag "Gerechtigkeit als ethische Notwendigkeit" im Trierer Studienzentrum Karl-Marx-Haus. Und beginnt mit einer Untersuchung: Das Thema Gerechtigkeit sei aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Die Schere gehe zunehmend auseinander. Managergehälter stiegen und stiegen. "Die Grenze zur Schamlosigkeit ist überschritten." Zehn Prozent der Deutschen besäßen die Hälfte des Gesamt-Vermögens, während auf die ärmere Bevölkerungshälfte gerade einmal 4,5 Prozent entfielen."Ein Stein im Wasser zieht Kreise"

Ärzte mit unorthodoxen Ansichten werden gern als Kurpfuscher abgetan - deshalb verweist Engholm vorsichtshalber auf seine Reputation: "Ich spreche als sozialdemokratisches Fossil. Ich bin kein verarmter Neidhammel, und ich bin auch kein uneinsichtiger Linker." Er erzählt, wie er "vor seinen Lübecker Jusos" Vorlesungen über Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft gehalten hat. Von dessen Vorstellungen sei Deutschland inzwischen so weit entfernt, dass sie "heute fast schon revolutionär" anmuteten. Dann stellt Engholm die Diagnose: "Ich habe keine Zeit erlebt, in der die Ungewissheit so groß war wie heute. Gewiss ist nur die Ungewissheit." Neue Orientierungen seien vonnöten, sittliches Bewusstsein, Ethos. "Gerechtigkeit darf nicht unter die Räder der Ökonomie kommen." Das sei von existenzieller Bedeutung für eine gesunde Gesellschaft und sozialen Frieden: Wenn alle sich einigermaßen versorgt fühlten, neide niemand dem anderen etwas. Das "Grundmotiv, sozial in die Zukunft zu gehen", sei deshalb eine Sache der Vernunft. Wie aber sind die wunden Stellen, die wuchernden Geschwüre der deutschen Gesellschaft zu kurieren? Engholm entwirft einen Behandlungsplan: Die Menschen müssten wieder anfangen, über die Grundlagen einer sozialen Gesellschaft zu diskutieren, Eliten sollten öffentlich eine gerechtere Verteilung einfordern. Entsprechendes Interesse sei durchaus da: Engholm berichtet von einem Ethik-Diskurs in Lübeck, der regelmäßig bis zu 600 Menschen anziehe. "Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, zieht das Kreise." Engholm verweist auf große Solidarleistungen in der Geschichte wie die Integration der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. "Wir müssen das, was vorhanden ist, mobilisieren. In jedem Menschen steckt ein Stückchen Gerechtigkeit." Wenn die öffentliche Diskussion stark genug werde, kämen Politiker nicht um das Thema Gerechtigkeit herum, sagt Engholm. Und, die medizinische Fakultät lässt grüßen: "Politik muss auf den sozialen Seziertisch. Man darf nicht nur die Ökonomen darüber reden lassen.""Die Welt zu verbessern ist nicht utopisch"

Oft höre er das Argument, der Druck von außen sei so stark, dass Politikern kaum Handlungsspielräume blieben, sagt Engholm und zückt den Rezeptblock: "Dann müssen wir uns eben Partner suchen und mit ihnen gemeinsam versuchen, die Welt zu verändern." Wenn Europa zusammen stehe, könne ein gerechteres Gesellschaftsmodell zum Exportschlager werden. Zum Schluss hält der Ex-Politiker wie jeder gute Mediziner Ermunterungen bereit. Er erinnert an Willy Brandts zunächst belächelte Ostpolitik. "Damit hat er ein wahnsinniges Stück Weltverbesserung geschafft." Und dann fasst Engholm sein Credo noch einmal in Worte, die Balsam auf die Seelen der gut 100 Zuhörer vornehmlich aus dem sozialdemokratischen Milieu sind: "Die Welt zu verbessern ist nicht so utopisch, wie man meint." Der Beifall lässt keine Zweifel aufkommen: Das Implantat funktioniert. Die Operation ist geglückt.

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