Eine Frage des Vertrauens

BERLIN. Macht Bundespräsident Horst Köhler dem Kanzler noch einen Strich durch die Rechnung? Noch immer ist nicht klar, wie Gerhard Schröder Neuwahlen im September erzwingen will. Köhler kommt dabei jedenfalls eine Schlüsselrolle zu.

„Rot-Grün zu dumm zum Selbstmord“, kommentieren Beobachter die seltsame politische Gemengelage in Berlin. Seit Kanzler Gerhard Schröder am vorvergangenen Wochenende Neuwahlen ankündigte, greift auch die Skepsis über das formale Gelingen dieses Coups um sich. Im Rampenlicht steht dabei der Bundespräsident. Ohne seine Einwilligung, so bestimmt es die Verfassung, kann der Bundestag nicht vorzeitig aufgelöst werden, bleibt der Weg für einen vorgezogenen Urnengang versperrt. Die Spekulationen schießen besonders ins Kraut, seit klar ist, dass Horst Köhler von dem spektakulären Manöver zuerst aus dem Fernsehen erfahren hat und nicht, wie zunächst vom Kanzleramt kolportiert, aus dem Munde Gerhard Schröders. Doch würde Köhlers Verärgerung am Ende tatsächlich so weit gehen, des Kanzlers Neuwahl-Vorstoß kraft Vertrauensfrage für gegenstandslos zu erklären? Darüber streiten die Gelehrten. „Warum stellt der Kanzler die Vertrauensfrage, wo ihm doch alle lauthals ihre Loyalität bekunden?“, wundert sich der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, in der neuesten Ausgabe des Magazins „Der Spiegel“. Dem hält sein Ex-Richter-Kollege, Ernst Gottfried Mahrenholz, an gleicher Stelle entgegen, dass Schröder eingedenk der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen „plausible Gründe“ habe, „nicht mehr stabil weiterregieren“ zu können. Nach Angaben des Blatts soll der Kanzler das Staatsoberhaupt in einem vertraulichen Gespräch auch entsprechend unterrichtet haben („Meine Regierungsmehrheit ist instabil“). Kohl ist Vorbild für Schröder

Ein „positives Signal“ zu Schröders angestrebter Misstrauensbekundung im Parlament, die nach Lage der Dinge durch ein negatives Votum von Kabinettsmitgliedern herbeigeführt werden soll, sei der Bundespräsident aber schuldig geblieben. Auf jeden Fall wäre es für Horst Köhler schwierig, eine triftige Begründung gegen Schröders Vorgehen zu finden. Die Blaupause dafür liefert ein Fall aus dem Jahr 1982. Mit der Aufkündigung des sozial-liberalen Bündnisses durch die FDP gelangte damals Helmut Kohl zur Kanzlerschaft. Doch der CDU-Politiker wollte die Macht mittels Neuwahlen bestätigt wissen. Seine Vertrauensfrage ging wie gewünscht verloren, weil sich Union und FDP der Stimme verweigerten. Gerhard Schröder kommt derzeit gerade einmal auf drei Stimmen „über den Durst“, und die rot-grünen Zerfallserscheinungen sind allerorten offensichtlich. Schon deshalb wäre die heutige Situation weitaus plausibler als vor 23 Jahren, als Bundespräsident Karl Carstens – wenn auch mit großen Bauchschmerzen – dem Neuwahl-Deal zustimmte.

Und noch etwas hat Horst Köhler zu bedenken: Nirgendwo steht geschrieben, dass Gerhard Schröder zurücktreten muss, falls sich das Staatsoberhaupt nach dem negativen Ausgang der Vertrauensfrage einer Auflösung des Bundestages verweigert. Laut „Spiegel“ soll der Kanzler dies auch bei seinem Gespräch mit Köhler klar gemacht haben („Dann bleibe ich selbstverständlich im Amt“). Praktisch wäre das natürlich eine absurde Situation. Der Kanzler bliebe hoffnungslos angeschlagen und könnte sich nur durch politischen Stillstand bis zum regulären Wahldatum im Herbst 2006 hangeln. Andererseits hätte Horst Köhler der Unions-Hoffnung Angela Merkel den schon sicher geglaubten Triumph erst einmal vermasselt – ausgerechnet jener Frau, der Köhler sein Amt verdankt.

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