Eine Schwester, die sie nie kennen werden

KONZ-OBEREMMEL. Ein Erlebnis, mit dem Eltern wahrscheinlich nie fertig werden: Ihr Kind stirbt. Gaby Westhoff aus dem Konzer Stadtteil Oberemmel (Kreis Trier-Saarburg) musste diese Erfahrung machen. Ihre Tochter Lilly starb im Mutterleib.

"Lilly" steht auf der Kerze, die in der Ecke der Küche steht. Oft wird die Kerze am Frühstückstisch angezündet. Erinnerung an ein Kind, das gestorben ist, bevor es auf der Welt war. Lilly wurde tot geboren. In der 25. Schwangerschaftswoche brachte Gabriele Westhoff ihre Tochter auf die Welt. Einen Tag vorher hatte sie erfahren, dass das Kind in ihrem Bauch nicht mehr lebte. "Ich fühlte mich ohnmächtig, konnte nichts mehr machen." Die 38-Jährige sucht noch immer nach Worten für ihr Schicksal. Ein Schicksal, das nicht nur die Mutter überfordert: "Alle waren hilflos, der behandelnde Arzt, einige der Schwestern. Nur wenige konnten mit der Situation umgehen." Ihren drei Kindern sagt es die allein erziehende Mutter noch am gleichen Tag: "Lilly ist tot." Der fünfjährige Jannis fängt als Erster an zu weinen, dann auch die beiden anderen, Charlotte, drei, und Susann, neun. Trauer über eine Schwester, die sie nie kennen lernen durften. Nach der Geburt per Kaiserschnitt darf Gabriele Westhoff ihre Tochter noch einmal in die Arme nehmen. "Ich musste doch wissen, wie mein Kind aussieht, damit ich auch Abschied nehmen konnte." Die Hebamme im Krankenhaus bereitet sie auf diesen Moment vor und gibt ihr Zeit, sich von Lilly zu verabschieden. Es habe ausgehen wie ein fertiges Kind. "Ich fühlte mich wie amputiert. Mir wurde etwas genommen." Von der Hebamme bekommt sie Kontaktadressen und Ansprechpartner, die ihr helfen können in ihrer Trauer.Hilflos und von vielen unverstanden

Noch vom Krankenbett organisiert die Mutter die Beerdigung ihrer Tochter. Sie veröffentlicht eine Todesanzeige. Viele hätten nicht verstanden, warum sie trauert, für ein Kind, das noch gar nicht auf der Welt war. Eine Reaktion, die Mitgliedern der Selbsthilfegruppe "Gute Hoffnung - Jähes Ende" bestens bekannt ist. "Viele Menschen sind in solchen Fällen einfach hilflos, wissen nicht wie sie damit umgehen sollen", sagt Margit Müller von der Selbsthilfegruppe, in der sich Betroffene zusammengeschlossen haben und regelmäßig treffen, um über ihre Trauer zu sprechen. "Viele vergessen, dass das Kind gelebt hat, in der Mutter oder manchmal auch bis kurz nach der Geburt." Müller hat selbst diese Erfahrung gemacht. Ihre Schwangerschaft verlief ganz normal, doch ihr Sohn kam tot auf die Welt. Noch immer sind Tod und Trauer in Deutschland tabuisiert. Besonders bei Tot- oder Fehlgeburten. Niemand kennt die Kinder, niemand hat sie erlebt, keiner hat eine Erinnerung an sie, außer den Eltern. Rund 3000 Kinder sterben nach dem dritten Schwangerschaftsmonat jährlich im Mutterleib oder kurz nach der Geburt. Knapp vier von 1000 erkannten Schwangerschaften enden in Deutschland mit einer Tod- oder einer Fehlgeburt. Doch Trauer für diese Kinder lässt die Gesellschaft nicht zu. "Diese Kinder und die Trauer brauchen aber einen Platz im Leben", fordert Ulrike Doevenspeck-Henzler von der Selbsthilfegruppe. Auch sie hat ihren Sohn bei der Geburt verloren. "Das beste ist, darüber zu reden." Man soll auf die Betroffenen zugehen, sie trösten. "Die Trauer kommt immer wieder in Schüben", sagt Margit Müller. So ist es auch bei Gabriele Westhoff. Auch wenn sie durch ihre drei Kinder immer wieder abgelenkt wird. "Ich muss halt funktionieren. Auch wenn ich lache, die Trauer bleibt und kommt immer wieder hoch, und dann muss ich weinen." Bald wäre Entbindungstermin. Die 38-Jährige denkt mit Unbehagen an diesen Tag. Wenn die dreijährige Charlotte über den Rasen läuft, denkt sie daran, dass Lilly das nie tun wird. "Die Trauer bleibt ein Leben lang." Etwas, das viele Außenstehende nicht begreifen. Statt echten Trost zu spenden, gehen sie den Trauernden aus dem Weg, lassen sie alleine. Halt und Trost findet sie bei dem Vater ihres Kindes, Freunden, der Lebensberatung in Saarburg und in der Selbsthilfegruppe. Die Gespräche mit Betroffenen helfen ihr, mit ihrer Trauer umzugehen. Um ihre Gefühle zu beschreiben, für die sie nur schwer Worte findet, modellierte sie eine Figur - eine Frau mit einem Loch im Bauch. Lilly wurde auf dem Friedhof in Oberemmel beerdigt. Lange hat sich Gabriele Westhoff überlegt, ob sie ihre drei Kinder zur Trauerfeier mitnehmen soll, dann hat sie sich dafür entschieden. Sie sollten auch Abschied nehmen dürfen von ihrer Schwester. Oft gehen die drei nun zu dem Grab und sagen: "Tschüss Lilly." Die Älteste bringt ihr regelmäßig selbst gepflückte Blumen mit.

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