Er spricht den Genossen aus der Seele

KARLSRUHE. Mit einem Spitzenergebnis ins Führungsamt: Die Sozialdemokraten haben Matthias Platzek fast einstimmig zu ihrem neuen Parteichef gewählt und das Ereignis anschließend euphorisch gefeiert.

Irgendwann, im großen Gedränge der Gratulanten, bekommt Matthias Platzeck ein kleines rotes Wollknäuel an sein Jackett geheftet. Es ist ein Geschenk der Genossen aus Schleswig-Holstein. Dort hat das Symbol fast schon Kult-Status. Steht es doch für den "roten Faden der sozialen Gerechtigkeit". Platzeck schüttelt dem Überbringer die Hand. Dann tritt der frisch gekürte Vorsitzende noch mal ans Rednerpult, um sich unter euphorischem Applaus für das überwältigende Wahlergebnis zu bedanken: "Die Zahl erinnert an alte Zeiten, aber dieses Ergebnis ist wohl regulär zustande gekommen." 99,4 Prozent. Soviel Zustimmung wurde seit Kurt Schumacher keinem SPD-Vorsitzendem mehr zuteil. Und als Ostdeutscher hat Platzeck damit auch ein gewisses Problem. Aber seine Einschätzung ist goldrichtig: Die Parteitagsdelegierten feiern ihren neuen Star ehrlichen Herzens, weil er ihnen aus der Seele spricht. Von den Niederungen einer höheren Mehrwertsteuer oder der Aufweichung des Kündigungsschutzes hat der SPD-Anhang auf diesem Parteitag schon genug gehört. Platzeck verlässt sich dann auch ganz auf sein Gespür. Um das politische Klein-Klein macht er einen großen Bogen. Stattdessen nimmt der 51-Jährige den roten Faden der sozialen Gerechtigkeit auf. Daraus bildete er ein politisches Wertegerüst, das die Partei spätestens seit der Agenda 2010 vermisst: Die Schwierigkeit des Sozialstaats sei, dass ihm die alten Voraussetzungen abhanden kämen. Wachstum, Vollbeschäftigung, Kindersegen. So müsse "aus weniger mehr und Besseres" gemacht werden, unterstreicht Platzeck. "Wir müssen den Menschen erklären, was geht und was nicht." Seit wann sei es links, die Wirklichkeit zu ignorieren?, meint er in Abgrenzung zur Linkspartei. Den politischen Begriff sollen sich die Sozialdemokraten aber keinesfalls nehmen lassen. "Links ist Bewegung, Aufbruch, Kreativität und nicht Verweigerung", ruft Platzeck den Delegierten zu. Sicher, an manchen Stellen häuften sich die Schlagworte und die Klischees einer allzu heilen Welt: mehr zupacken, mehr Vertrauen, mehr Gemeinschaft, keinen zurücklassen, niemanden aufgeben. Und es ist auch nicht so, dass Platzeck die nötigen Antworten im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und sozialem Zusammenhalt präsent hat. Aber er formuliert die Aufgaben so, dass sie auch der letzte Delegierte versteht. Mal laut und kämpferisch, mal leise und mit nachdenklichem Ton. Die Schilderung seiner DDR-Erfahrung wirkt dabei genau so wenig aufgesetzt wie die rhetorische Variation eines Bekenntnisses, das schon Bundespräsident Horst Köhler populär gemacht hat: "Ich möchte mein Land gegen kein anderes auf der Welt eintauschen. Es ist ein wunderbares Land." Die Delegierten sind fasziniert und verblüfft

Schließlich empfiehlt Platzeck der SPD, "einen dicken Strich unter die Turbulenzen der vergangenen Wochen zu ziehen und nach vorn zu blicken". Viele Delegierte sind von seinem Auftritt fasziniert und verblüfft. "Das trifft unseren Gefühlspunkt. Die Ossis haben ja tolle Leute", staunt ein bayerischer Genosse. "Er wird kein Wolkenschieber sein, sondern das Machbare durchsetzen", freut sich ein Parteimitglied aus Sachsen-Anhalt. Kritische Kommentare sind nicht auszumachen - die Genossen haben sich geschlossen auf einen enormen Vertrauensvorschuss für ihren neuen Vorsitzenden geeinigt. Diese Gunstbezeugung wird nicht allen Spitzengenossen zuteil. Am meisten bekommt Hubert Heil die "Turbulenzen" der jüngsten SPD-Vergangenheit zu spüren. Obgleich sich Platzeck in seiner Rede ausdrücklich für den erst 33-jährigen Niedersachsen ins Zeug gelegt hat ("Hubertus ist mein Kandidat"), wird er nur mit knapp 62 Prozent der Stimmen zum neuen Generalsekretär gewählt. Als Sprecher der pragmatisch orientierten SPD-"Netzwerker" hatte Heil vor zwei Wochen maßgeblich dafür gesorgt, die Parteilinke Andrea Nahles bei der Nominierung des Generalsekretärs im Vorstand durchzusetzen. Das hatte schließlich zur überraschenden Abdankung von SPD-Chef Franz Müntefering geführt. Die Botschaft dieses Parteitages bleibt freilich das einsame Spitzenergebnis für den Hoffnungsträger Matthias Platzeck. "Der hat schon eine Einladung zum Staatsbesuch gekriegt", witzelt ein Genosse am Rande. "Und zwar nach Nordkorea, um der Führung dort zu erklären, wie man auf ehrliche Weise zu fast 100 Prozent kommt."

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