Flucht nach vorn: Die Bundeswehr macht mit

Berlin. Der Druck war einfach zu groß geworden. Von internationaler Seite hatten sich die Aufforderungen gemehrt, dass Deutschland sich an einer möglichen Friedensmission im Nahen Osten beteiligen müsse. Nun gibt es kein Zurück mehr: Die Bundeswehr ist dabei.

In Berlin hieß es gestern, der internationale Einfluss sei nicht ausschlaggebend gewesen. Viel schwerer wogen wohl die innenpolitischen Umstände, denen sich in den vergangenen Tagen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) gegenübersahen. Die Bundesregierung hat sich entschieden: Deutschland wird sich grundsätzlich mit Soldaten an der UN-Friedensmission in Nahost beteiligen. Art und Umfang des Engagements werden zwar noch debattiert. Doch einiges zeichnet sich bereits ab: Die Marine wird womöglich vor der Küste des Libanons und vor Israel eingesetzt. Gegenwärtig beteiligt sie sich bereits im Mittelmeer am Anti-Terror-Kampf. Aufgabe soll dann sein, den Waffenschmuggel vor der libanesischen Küste zu unterbinden. Gleiches gilt für den eventuellen Einsatz der Bundespolizei im syrisch-libanesischen Grenzgebiet. Denkbar - so verlautete gestern - sei auch die Entsendung von Pionieren für den Wiederaufbau. Dagegen ist ein Sanitäter-Einsatz ausgeschlossen, weil die Bundeswehr in diesem Bereich wegen der vielen Auslandseinsätze an ihren Kapazitätsgrenzen angekommen ist. Konkreter festlegen will man sich laut Koalitionskreisen heute. Geplant ist eine Spitzenrunde mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, CSU-Chef Edmund Stoiber (Gegner einer Entsendung von Soldaten) sowie SPD-Chef Kurt Beck (Befürworter einer Beteiligung) und Vizekanzler Franz Müntefering. Ein heikles Treffen also. Die Runde war jüngst eingerichtet worden, um wichtige Entscheidungen vorab zu besprechen und das Koalitionsklima zu pflegen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier wird heute Abend von seiner dritten Nahost-Reise zurückerwartet. Angeblich wollen Merkel und er dann alsbald die Öffentlichkeit über die Pläne informieren - spätestens nach der Kabinettssitzung kommende Woche. Ob Verteidigungsminister Franz-Josef Jung dann dabei sein wird, ist offen. Seit Beginn der Nahost-Krise telefonieren Merkel und Steinmeier fast täglich. Die Kanzlerin, die zum Start ihrer Amtszeit zunächst außenpolitisch glänzte, hat Steinmeier inzwischen komplett das Feld überlassen. "Ich bin auch der Außenminister", betont der SPD-Mann.Koalition wehrt Zerreißprobe ab

Doch weder Steinmeier noch Merkel konnten verhindern, dass die Debatte über die deutsche Beteiligung an einer UN-Mission für die Regierenden zunehmend außer Kontrolle geriet; immer mehr Befürworter und weitaus mehr Kritiker innerhalb der Koalition meldeten sich zu Wort. Die Koalition bot ein verwirrendes Bild, die Entsendung deutscher Soldaten schien gar wegen des sich abzeichnenden Widerstands zur Zerreißprobe zu werden. Schließlich muss der Bundestag zustimmen. Was vor allem fehlte, war eine eindeutige Vorgabe der in Tirol urlaubenden Kanzlerin: "Wir haben noch keine klare Haltung der Bundeskanzlerin", meckerte beispielsweise der SPD-Außenexperte Gert Weisskirchen. Um das Heft wieder in die Hand zu bekommen, vermuten Oppositionspolitiker, habe die Bundesregierung nun die Flucht nach vorn angetreten. Neben der Debatte über den Einsatz an sich wird sich die Koalition jetzt allerdings auch der Frage der Belastbarkeit der Bundeswehr stellen müssen. Die Opposition fordert bereits, die Bundeswehrreform neu anzugehen: "Wir brauchen dringend ein großes Reinemachen bei der Beschaffung von Rüstungsgütern", so der grüne Verteidigungsexperte Alexander Bonde. Angesichts von zwei neuen Einsätzen im Kongo und voraussichtlich im Nahen Osten habe die Truppe ihre Kapazitätsgrenzen erreicht, sagte Bonde unserer Zeitung. Er forderte daher Etatumschichtungen zu Gunsten des Sanitätswesens, der Beschaffung kleiner gepanzerter Fahrzeuge und von Transporthubschraubern. Der Armee fehlten inzwischen klare Prioritäten, "wie viele Ressourcen wir künftig in die Auslandseinsätze und in die klassische Landesverteidigung stecken wollen". Wer die Soldaten in aller Welt einsetze, könne nicht länger auf militärische Großsysteme zur klassischen Kriegsführung wie den Eurofighter setzen: "Die Bundeswehr benötigt keine Ausrüstung mehr für Einsätze, die vor 20 Jahren mal angedacht waren", so der Grüne. Bonde steht übrigens nicht alleine: Solche Stimmen sind inzwischen auch aus der Koalition zu hören.

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