Fremde in der Familie

HINZENBURG. Andrea und Norbert Thiele haben vier Kinder: Drei Pflegekinder und eine Adoptiv-Tochter. Trotzdem fühlen sie sich als Großfamilie.

Kinder, die nicht die eigenen sind, für die man zwar verantwortlich ist, bei denen jedoch das Jugendamt oder die Eltern das letzte Wort haben. Pflegekinder. Häufig sind sie Kinder auf Zeit. Über 40 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland leben für einen befristeten Zeitraum oder dauerhaft in Pflegefamilien. Weil ihre Eltern gestorben sind oder weil sie aus ihren Ursprungsfamilien herausgenommen wurden, wenn ihre Eltern nicht fähig waren, sie zu erziehen, sie vernachlässigt oder missbraucht haben. Sie sind fremde Kinder in einer fremden Familie. So wie Kevin, 15, Christopher, 13, und Franziska, zwei Jahre alt. Sie haben ein neues Zuhause gefunden. Bei Andrea und Norbert Thiele im kleinen Hochwald-Dorf Hinzenburg (Kreis Trier-Saarburg). Kevin und Christopher sind Brüder.Den Job erst einmal auf Eis gelegt

Als Kleinkinder sind sie zu den Thieles gekommen, die beim Jugendamt als potenzielle Adoptiveltern gemeldet waren. "Das ging von jetzt auf gleich", erinnert sich Andrea Thiele. Innerhalb von zwei Wochen hatte das bis dahin kinderlose Paar zwei Kinder. "Wir hatten gar keine Zeit, uns darauf vorzubereiten", sagt Norbert Thiele, 47. Von heute auf morgen änderte sich das Leben der beiden, die immer gerne eigene Kinder haben wollten. Andrea Thiele, Erzieherin, musste ihren Job erst einmal auf Eis legen. Obwohl die Thieles sich seit längerem darum bemühten, ein Adoptivkind zu bekommen, fühlten sie sich zunächst doch etwas überfordert. Plötzlich hatten sie Kinder, die aber nicht ihre eigenen waren. Denn zunächst hatten sie noch nicht die Vormundschaft für Kevin und Christopher, deren Mutter trank und sich nicht um ihre Kinder kümmerte. Die beiden waren nur befristet bei den Thieles. Jederzeit hätte das Jugendamt sie ihnen wieder wegnehmen können. Mittlerweile sind sie zu Dauerpflegekindern geworden. Andrea und Norbert Thiele sind für sie verantwortlich, müssen für sie gerade stehen, obwohl sie nicht ihre leiblichen Kinder sind. Die achtjährige Jessica ist ihre Adoptivtochter. Sie kam als Baby zu dem Ehepaar. "Das war wie ein Sechser im Lotto", strahlt Andrea Thiele. Und vor zwei Jahren kam noch Franziska dazu, auch ein Pflegekind. Doch noch hat ihre 18-jährige Mutter ("Die ist ja selbst noch ein Kind.") nicht zugestimmt, dass sie dauerhaft in Hinzenburg wohnen darf. "Das ist schon ein bisschen nervig. So langsam bräuchten wir Sicherheit, ob Franziska nun bei uns bleiben darf oder nicht", sagt Norbert Thiele. Obwohl sie die Kleine ins Herz geschlossen haben und ihr für längere Zeit ein Zuhause bieten wollen, sind sie noch etwas zurückhaltender zu ihr. Unterschiede zwischen ihrer Adoptiv-Tochter und den drei Pflegekindern machen die Thieles nicht. "Das sind unsere Kinder. Wir sind ihre Eltern." Kevin, Christoph und Franziska sagen Mama und Papa zu den beiden. Oma und Opa betrachten die drei als ihre Enkelkinder. Die beiden Jungs haben mittlerweile auch den Nachnamen der Pflegeeltern angenommen. Zu ihrer leiblichen Mutter haben sie keinen Kontakt mehr. Erst spät haben sie erfahren, dass sie noch zwei ältere Geschwister haben, von denen sie jedoch auch kaum etwas wissen. "Die Jungs wussten von Anfang, dass sie nicht unsere leiblichen Kinder sind." Auch im Dorf, wo Andrea und Norbert Thiele vor 20 Jahren ein großes Bauernhaus gekauft und in jahrelanger Eigenarbeit liebevoll restauriert haben, weiß jeder Bescheid. Anfangs waren einige noch skeptisch, berichten die Eltern. Pflegekinder! Viele haben offenbar falsche Vorstellungen davon, pflegen Vorurteile wie: Womöglich sind sie kriminell, wie Pseudo-Dokumentationen im Fernsehen Pflegekinder gerne darstellen. Oder womöglich nehmen Eltern Pflegekinder nur auf, um das Geld zu kassieren, das es als Unterstützung gibt. "Natürlich bekommen wir für die drei zusätzliches Geld. Aber damit ist doch garantiert, dass ich mich voll und ganz um die Kinder kümmern kann und nicht noch nebenbei arbeiten muss", sagt Andrea Thiele. Im Dorf bewundert man die Thieles inzwischen. "Alle haben viel Verständnis für uns", lobt Norbert Thiele die Dorfgemeinschaft. "Wir haben bisher nichts bereut", sagt die Mutter. "Wenn die Jungs nicht in eine Pflegefamilie gekommen wären, wären sie in der Gosse gelandet", ist sich Norbert Thiele sicher. Manchmal geht es hoch her in dem Bauernhaus am Rande von Hinzenburg. "Leise ist es selten bei uns." Wie in jeder Familie mit vier Kindern zwischen zwei und 15 Jahren. Die vier spielen und streiten wie ganz normale Geschwister. "Die Jungs sind voll in der Pubertät. Das ist manchmal kein Spaß", stöhnt Andrea Thiele. Die drei ältesten haben sogar ein gemeinsames Hobby: Schwimmen. Christopher ist Rheinland-Meister im Turm- und Kunstspringen. Kevin beginnt demnächst eine Lehre als Koch in einer Trierer Gaststätte. Nur zehn Bewerbungen habe er geschrieben, erzählt er. Und sein (Pflege-)Vater nickt stolz.

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