Gabriel schenkt SPD Überraschungs-Ei

Berlin · Ein politischer Paukenschlag in Berlin: Sigmar Gabriel übergibt die Kanzlerkandidatur und den SPD-Vorsitz an Martin Schulz.

Am Nachmittag tat Thomas Oppermann noch so, als wüsste er von gar nichts. "Da war doch noch etwas, ach ja, die Kanzlerkandidatur", witzelte der SPD-Fraktionschef vor den Journalisten. "Lassen sie sich überraschen." Sprach's und verschwand zu seinen Abgeordneten.

Kurz darauf überschlugen sich die Ereignisse. Wenige Minuten danach betrat Außenminister Frank-Walter Steinmeier nebenan den Raum der Unionsfraktion, um dort für sich als Bundespräsidenten-Kandidat zu werben. Da empfing den SPD-Politiker schon Gemurmel, viele Abgeordnete reichten ihre Handys weiter. Steinmeier wirkte auf einige, als wäre er ahnungslos. Die Meldung, die wie eine Bombe einschlug, lautete: "Sigmar Gabriel tritt nicht als Kanzlerkandidat an." Er überlasse Martin Schulz den Vortritt.Bundestagswahl 2017

Ein Medien-Branchendienst hatte die Nachricht verbreitet - illustriert mit dem Titelbild der noch unveröffentlichten neuesten Ausgabe des Stern, der ein Interview mit Gabriel geführt hatte. Schlagzeile: "Der Rücktritt". Viele bei SPD und Union glaubten anfänglich noch an eine Fake-News.

Doch Gabriel kam in der SPD-Fraktion gleich zur Sache. Als Vizekanzler werde er immer mit der großen Koalition verbunden, meinte er. Die wollten viele aber nicht mehr. Teilnehmer berichteten, dass es seltsam still geworden sei. Gabriel erklärte weiter, es brauche einen Neuanfang - mit Martin Schulz, dem ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten, den viele eigentlich schon fest als neuen Außenminister verbucht hatten. Er habe für sich entschieden, "dass Martin die besseren Chance hat", soll Gabriel gesagt haben.

Schulz werde auch den Parteivorsitz übernehmen, denn es sei klug, wenn beide Ämter in einer Hand blieben. Erstaunlich gelöst und entspannt soll Gabriel das alles vorgetragen haben. Über seine eigene Zukunft sprach er vor den Abgeordneten nicht. Dem Stern aber sagte er, er werde nun neuer Außenminister. Freitag schon könnte die Vereidigung sein. Ein weiterer Paukenschlag. Gabriel bekam stehenden Beifall, weniger für seine Entscheidung, als vielmehr für seine Leistungen in den sieben Jahren als Parteichef. Viele empfanden Wehmut, wie etwa die Parteilinke

Elke Ferner, seit 13 Jahren Chefin der SPD-Frauenorganisation ASF. "Es war immer eine faire, offene Zusammenarbeit mit ihm." Und der Abgeordnete Axel Schäfer merkte an: "Jetzt ist unser bester Mann nicht mehr an der Spitze, aber unser bester Wahlkämpfer." In den Beifall hinein sagte Gabriel ironisch: "Ihr solltet es mit der Freude, dass ich nicht Kanzlerkandidat werde, nicht übertreiben." Nach rund 20 Minuten entschwand er durch einen Hinterausgang. Schulz war nicht im Saal. Am Abend traf sich die Parteispitze in der SPD-Zentrale. Ursprünglich hatte das Geheimnis um den Merkel-Herausforderer erst am kommenden Sonntag bei einer großen Schauveranstaltung im Willy-Brandt-Haus gelüftet werden sollen. Darauf hatte Gabriel immer wieder gepocht.

Nun trat er seinen eigenen Zeitplan persönlich in die Tonne. "Das überrascht mich in der Tat sehr", meinte Umweltministerin Barbara Hendricks hörbar ratlos. Doch dann fing sich die SPD-Politikerin wieder: Gabriel habe seine Entscheidung "aus einer Position der Stärke heraus gefällt und damit wahre Größe gezeigt". Auch Fraktionschef Thomas Oppermann wirkte hinterher etwas geknickt. Er habe aus mehreren vertraulichen Gesprächen von den Zweifeln Gabriels gewusst, betonte Oppermann. Von dem Interview mit dem Stern freilich nichts, wie er frustriert einräumte.

Viele Abgeordnete fragten sich daher, warum ihr Parteivorsitzender seine Entscheidung zuerst über die Medien lancierte, statt sie zu informieren. Eine ließ sich wie immer nichts anmerken: Angela Merkel. Die Kanzlerin habe sich weder zu Gabriels Entscheidung noch zu ihrem Herausforderer Schulz geäußert, berichteten Unionsabgeordnete aus der CDU/CSU-Fraktionssitzung. Auf die Frage, ob der Wahlkampf gegen Schulz für Merkel nun schwerer sei, antwortete der Fraktionsvize Michael Fuchs forsch: "Nein, leichter. Berlin ist nicht Brüssel. Hier muss man schon mit Fakten kommen."

Unionsfraktionschef Volker Kauder nutzte die Gelegenheit des Besuchs von Steinmeier, ihn etwas zu foppen: "Bei euch gibt es jetzt bestimmt einiges zu besprechen", gab er dem noch amtierenden Außenminister mit auf den Weg. "Frank, du hast dich gut aus der Affäre gezogen, dass du nicht noch mal als Kanzlerkandidat antreten musst."Extra

1998 - Gerhard Schröder: Damals konkurrierten Schröder und Parteichef Oskar Lafontaine um die Spitzenkandidatur. Entschieden wurde das Rennen am 1. März bei der Landtagswahl in Niedersachsen. Der kraftstrotzende Ministerpräsident Schröder hatte angekündigt, in der K-Frage zurückzuziehen, wenn er mehr als zwei Prozentpunkte verliere. Schröder aber rockt die Wahl, holt für die SPD mit 47,9 Prozent ein Plus von 3,6 Prozentpunkten. Irgendwann klingelt in Hannover ein Telefon. Schröder geht ran, es ist Lafontaine: "Na, Kandidat", soll der Saarländer zur Begrüßung gesagt haben. Lafontaine macht den Weg für Schröder frei, bildet mit ihm ein Duo. Schröder schlägt Kohl und wird Kanzler. Doch die Freundschaft mit Oskar zerbricht. Im März 1999 schmeißt der gekränkte Finanzminister Lafontaine hin, wird später Chef der neuen Linkspartei.
2009 - Frank-Walter Steinmeier: Am 6. September 2008, ein Samstag ein Jahr vor der Wahl, sickert durch, dass Außenminister Steinmeier bei der K-Frage zugreift. Erst heißt es noch, das sei im besten Einvernehmen mit Parteichef Kurt Beck erfolgt. Doch am Tag darauf kommt es bei der Klausur der Spitzengenossen zum Putsch vom Schwielowsee. Der glücklose Pfälzer Beck schmeißt entnervt hin, spricht von Intrigen. Franz Müntefering kehrt an die Parteispitze zurück. Dem in Umfragen populären Steinmeier geht auf der Strecke die Luft aus. Gegen Angela Merkel hat er am Ende keine Chance, die SPD stürzt mit 23 Prozent auf ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis ab.
2013 - Peer Steinbrück: Auch dieses Mal kommt es anders, als sich die Parteispitze es vorgenommen hatte. Drei Kandidaten stehen zur Auswahl: Ex-Finanzminister Steinbrück, Parteichef Gabriel und Steinmeier. Ende September 2012 macht Steinmeier seinen Verzicht deutlich. Gabriel, der schon damals nicht will, fliegt überstürzt aus München nach Berlin zurück, um Steinbrück in der Parteizentrale zu präsentieren. Die Kür ist verpatzt, es wird ein Pleiten-Pech-und-Pannen-Wahlkampf. Die SPD landet bei 25,7 Prozent. dpa

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