Gerechtigkeit auf dünnem Eis

TRIER/NITTEL. Fünf Jahre Haft auf der einen, ein totes Kind auf der anderen Seite: Keine leichte Abwägung für die Trierer Schwurgerichts-Kammer. Im Nitteler "Totschüttel-Prozess" ging es dem Gericht darum, trotz des emotional berührenden Falles den Blick für Differenzierungen nicht zu verlieren.

Ob Tanja F. im Moment der Urteilsverkündung begreift, dass sie vergleichweise mild bestraft worden ist? Immerhin war sie wegen Totschlags und Kindesmisshandlung angeklagt, ein Tatvorwurf, der auch gut und gerne mit dem doppelten Strafmaß hätte enden können. Es sieht nicht so aus, als sei ihr das klar. Ihre Verteidigerin Anne Bosch, um zwei Köpfe größer, beugt sich herunter und erläutert ihr leise den Spruch, während sich die Prozessbeteiligten setzen. Wenn man Tanja F. an die Hand nimmt, ihr die Dinge erklärt, ihr hilft, dann ist sie durchaus in der Lage, mitzukommen. Trotz eines unübersehbaren Mangels an Intelligenz, dessen politisch korrekte Umschreibung durch Juristen und Sachverständige manchmal skurrile Wortfindungen nach sich zieht.Viele Lasten aus der eigenen Kindheit

Keine Frage, Tanja F. ist, wie es ihre Verteidigerin formuliert hat, "einfach gestrickt". Und nicht nur das. Sie schleppt Lasten aus ihrer Kindheit mit, die auch starke Schultern niederdrücken würden. Ihre geliebte Mutter starb früh, der Vater schob sie ab, zog die klügere, attraktivere, "normale" große Schwester vor. Es ist nicht etwa die Angeklagte, die ihre Familienhistorie ins Verfahren einführt. Es ist die Schwester, die die Geschichte erzählt. Tanja F. verletzt sich selbst, lange bevor sie andere verletzt. Am Tag der Urteilsverkündung trägt sie ein T-Shirt, das von zahlreichen Schnitten vernarbte Unterarme erkennen lässt. Und doch hat sie sich nicht aufgegeben, eine Lehre abgeschlossen, gearbeitet, geheiratet, eine Familie gegründet. Der kleine Sven, sagt die Vorsitzende Richterin, sei "ein Wunschkind" gewesen, mit Freude erwartet. Selbst als das Chaos in der feuchten, gammeligen Wohnung überhand genommen habe, sei das Kinderzimmer "noch das beste" gewesen. Aber Sven ist ein Schreikind, hat Probleme bei der Nahrungsaufnahme. Und es ist niemand da, der Tanja F. in dieser Ausnahmesituation an die Hand nimmt. Jedenfalls empfindet sie es so. Das Gericht macht es sich nicht so einfach, die Schuld auf das Umfeld abzuschrieben. Ehemann, Verwandte: Es war nicht so, dass sie sich nicht gekümmert hätten. Aber sie waren nicht die Hilfe, die eine Katastrophe hätte verhindern können. Am 12. Dezember 2005 gibt es wieder einmal Streit um die Frage, wer das Baby füttern soll. Sven schreit und schreit. Der Ehemann fährt zur Arbeit, irgendwann am späten Vormittag lässt sich Tanja F., so sieht es das Gericht, "dazu hinreißen", ihren Sohn lange und heftig zu schütteln. Später findet sie ihn leblos in seinem Bett, alarmiert erst ihren Mann und dann den Notarzt. Am Abend bricht sie zusammen, muss selbst ins Krankenhaus.Kein Anhaltspunkt für bewusste Tötungsabsicht

Das Gericht lässt keinen Zweifel daran, dass die Angeklagte schwere Schuld auf sich geladen hat. Da wird nichts beschönigt oder weggelassen. Aber dass sie ihr Kind bewusst töten wollte, dafür finden die drei Frauen und zwei Männer der Schwurgerichtskammer keine Anhaltspunkte. Und auch nicht für die von der Staatsanwaltschaft mitangeklagte Misshandlung. Richterin Schmitz zitiert Fälle, in denen zu Tode geschüttelte Kinder auch noch Knochenbrüche, Verbrühungen oder Verbrennungen aufwiesen. Tanja F. aber habe ihr Kind "nur zu Tode geschüttelt". Das sei "um Gottes Willen nicht als Bagatellisierung gemeint", fügt sie angesichts der Formulierung fast erschrocken hinzu. Man hat den Eindruck, dass das Gericht zu jeder Sekunde weiß, auf welch dünnem Eis man sich bei diesem Thema bewegt. Es geht immerhin um ein hilfloses Kind, dessen Lebensrecht und Lebenschancen zerstört wurden. Es geht aber auch um ein Urteil, das der Täterin gerecht wird. Sogar Staatsanwalt Eric Samel hat in seinem Plädoyer von der Tat als einem "tragischen Ereignis" gesprochen. Vielleicht hilft ihm das, wenn er über Revision oder Berufung nachdenken muss.

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