Grassierende Lagermentalität

Das große Kampfgetöse um die Mohammed-Karikaturen und die Reaktionen, die auf ihre Veröffentlichungen folgten, verstellen den Blick aufs Wesentliche. Geredet wird vorrangig über Erscheinungsformen, nicht über Inhalte. Ein fataler Ansatz.

Die Debatte hat hysterische Züge. Nicht etwa, weil das Thema keine Auseinandersetzung wert wäre. Aber Distanz und Augenmaß fehlen. Was zurzeit in einigen Ländern betrieben wird - Hetze, Boykotte, Steinwürfe, Brandstiftung - ist so beispiellos nicht. Als in den 60er-Jahren in Berlin Molotow-Cocktails gegen den Schah von Persien flogen, als in den 70ern Waren aus dem Apartheids-Staat Südafrika boykottiert wurden, als Friedensdemonstranten in den 80ern Steine auf US-Militärlager schleuderten, als in den 90ern amerikanische Medien am Lügennetz zur Vorbereitung des Irak-Kriegs mitstrickten, als ihre Regierung den Zorn über den 11. September gezielt schürte, da war das Geschehen im rationalen Kern nicht viel anders als dieser Tage: Menschen, die von einer bestimmten Weltanschauung, Moral oder Religion überzeugt sind und diese andernorts verletzt sehen, versuchen, ihre Vorstellung durchzusetzen und wählen dabei indiskutable Mittel. Der Auslöser ist dabei völlig egal. Schwelende Konflikte pflegen sich einen Anlass zu suchen. Je größer die Ohnmachtsgefühle, desto heftiger. Bei Salman Rushdie war es ein Buch, bei Rudi Carrell ein Sketch, diesmal eine Zeichnung, die für die Explosion gesorgt hat. Die fast lustvoll geführte Debatte, ob die Karikatur nun bösartig war oder nur satirisch, beleidigend oder nur kritisch, ist müßig - vor allem angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der Empörten sie nie gesehen hat. Es geht nicht um eine Karikatur, es geht um eine zunehmend irrationale Lagermentalität zwischen dem Westen, wie es bei den Hasspredigern der einen Seite heißt, und dem Islam, von dem "Experten" der anderen Seite salbadern - nicht ganz so fanatisch im Ton, aber genau so intolerant in der Sache. Denn natürlich gibt es weder den Westen noch den Islam, sondern eine Fülle lose verbundener Staaten und Gesellschaften, die teilweise völlig unterschiedliche Interessen haben. Fundamentalisten gibt es auf beiden Seiten, stärker religiös und stärker ökonomisch geprägte Weltanschauungen, liberalere und strengere Rechtssysteme. Es gibt islamische Staaten, die Dieben die Hände abhacken, aber auch solche, die mit der Todesstrafe weit zurückhaltender umgehen als Texas. Es gibt islamische Diktaturen, die im "Westen" als Partner beliebt sind, und islamische Demokraten, um die sich niemand in der westlichen Wertegemeinschaft schert. Die Dinge sind nicht schwarz und weiß, auch wenn viele händeringend nach einem Ersatz für den weggefallenen Ost-West-Antagonismus suchen. Freilich bringt es auch nichts, vorhandene Probleme unter den Teppich zu kehren. Sie müssen nüchtern analysiert und geklärt werden, wenn der Hype der aktuellen Geschehnisse in vierzehn Tagen über Nacht in der medialen Versenkung verschwindet. Denn der reale Klärungsbedarf bleibt. Zum Beispiel bezüglich der Frage, wie viel Schutz-Sphäre in einer demokratischen Gesellschaft einer Weltanschauung oder Religion zusteht. Da geht es nicht um eine Geschmackssache und nicht um den Punkt, ob die Veröffentlichung einer Karikatur oder eines Textes "wirklich sein muss". In freiheitlichen Staaten braucht man keine Begründung dafür, warum man etwas darf, sondern warum man etwas verbietet. Und das hat die Rechtsordnung in Deutschland mit der Abschaffung des Gotteslästerungsparagrafen im Jahr 1969 klar geregelt: Es gibt keine Tabuzonen, über die nicht geredet, geschrieben oder gezeichnet werden darf. Religionsgemeinschaften sind keine esoterischen, dem irdischen Zugriff entzogenen Biotope, sie sind gesellschaftlich relevante, mächtige Organisationen, folglich dürfen sie kritisiert werden, auch mit dem Mittel des Spotts. Strafbar ist allein, was zum Zweck der Beschimpfung und Herabsetzung passiert, und zur Prüfung dieser Frage steht der Rechtsweg offen. Das ist nicht verhandelbar. Es hat mit dem elementaren Grundrechte-Verständnis einer Demokratie zu tun. Das darf nicht verwechselt werden mit dem vernünftigen Appell, bei Publikationen freiwillig auf die Gefühle Gläubiger Rücksicht zu nehmen. Aber es gibt auch das Recht, diesem Appell nicht zu folgen. Solche Klarheit hätte man sich bei den eilfertigen Beschwichtigungsversuchen vieler Politiker, aber auch angstschlotternder Unternehmer gewünscht. Wer das mit der Freiheit ernst meint, darf nicht beim ersten Boykott-Aufruf in Panik verfallen. Klare inhaltliche Grenzziehungen sind kein Hindernis für den notwendigen Dialog der Kulturen, sondern Voraussetzung. Dazu gehört auch das Prinzip der Nichteinmischung in interne Angelegenheiten anderer Staaten. Gesellschaften haben das Recht, ihren Umgang mit der Religion für ihren Staat nach ihren Regeln zu gestalten. Einzuhalten sind die von der Uno-Charta bestimmten Menschenrechte, den Rest muss jedes Land für sich bestimmen. Jeder weiter reichende Anspruch würde die Weltordnung sprengen. In Indien hält man Kühe für heilig, in Deutschland isst man sie auf. Beides ist gleichermaßen legitim. Es wäre tödlich, wenn sich Nationen diesbezüglich gegenseitig Vorschriften machen wollten. Aber das Selbstbestimmungsrecht ist keine Einbahnstraße. Seit es im Irak-Krieg mit Füßen getreten wurde, hat sich die Tonart dramatisch verschärft. Und das Argumentieren gegenüber den Empörten ist sehr viel schwieriger geworden. Auch da wäre Einsicht angebracht. Oder, um den früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann zu zitieren: Wer mit dem Zeigefinger auf andere deutet, sollte bedenken, dass mindestens drei Finger auf ihn zurückweisen.

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