Gysis Vergangenheit

In einer aktuellen Stunde im Bundestag musste sich Gregor Gysi gestern seiner Vergangenheit stellen. Neue Unterlagen hatten den Verdacht verstärkt, der Fraktionschef der Linken sei vor 30 Jahren mit der DDR-Stasi verstrickt gewesen.

Berlin. Eine aktuelle Stunde im Bundestag zum Vorleben eines einzelnen Abgeordneten, so etwas hat es noch nie gegeben. Gregor Gysi musste sich dieser Prozedur gestern stellen. Neun Redner befanden über ihn, jeder fünf Minuten lang und jeder negativ. Union und SPD hatten die aktuelle Stunde beantragt, nachdem neue Unterlagen den Verdacht verstärkt hatten, der Fraktionschef der Linken sei vor etwa 30 Jahren mit der DDR-Stasi verstrickt gewesen. Eine Klärung ergab die Debatte jedoch nicht. "Die sind verzweifelt über die Erfolge meiner Partei und wollen nun mich als Person treffen", klagte Gysi vorher gegenüber Journalisten. Das Ganze sei "unanständig". Die Redner der anderen Fraktionen richteten scharfe Angriffe auf ihn, forderten ihn auf, sein Mandat niederzulegen und warfen der Linkspartei mangelnde Aufarbeitung der Vergangenheit vor. Gysi kam nur in den Saal, um seinen Beitrag abzuliefern. "Ihre Angriffe sind frei von Kenntnissen und oftmals nur böswillig", sagte er unter heftigen Zwischenrufen. "So schaffen Sie weder mich, geschweige denn die Linken." Dann verließ er, begleitet von Oskar Lafontaine und stehendem Beifall seiner Fraktion, das Plenum wieder. Entscheidender als die Angriffe im Parlament ist für den Links-Fraktionschef die Aktenlage und ihre Interpretation durch die Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, Marianne Birthler. Gestern sagte sie in einem Fernsehinterview, was ihr vorliege, seien Unterlagen zu einem IM (Inoffizieller Mitarbeiter). "Und der kann nach Aktenlage nur Gregor Gysi gewesen sein." Gysi hatte Birthler am Wochenende als "Archivarin" bezeichnet, die versuche, sich "als eine Art Polizeiermittlerin aufzuspielen". Gegen Birthler klagen aber will er derzeit nicht, wie er gestern erläuterte. Das rieten ihm zwar seine Anwälte, doch würde das "nur ein großer Schauprozess". Der Linkspolitiker attackiert stattdessen weiter die Medien, die Birthlers Stellungnahmen bringen. So verlangt er vom ZDF eine Gegendarstellung und droht mit Klage. Gegendarstellungen aber sind keine Gerichtsurteile; sie stellen nur Tatsachenbehauptung gegen Tatsachenbehauptung, ohne Beweiswürdigung. Birthler bezieht sich auf einen Stasivermerk vom 5. Oktober 1979, in dem detailliert ein zwei Tage vorher geführtes Gespräch Gysis mit dem 1982 verstorbenen Regimekritiker Robert Havemann geschildert wird, dessen Anwalt Gysi war. Ebenso das Gespräch während einer anschließenden Autofahrt, die Gysi mit einem anderen DDR-Oppositionellen unternahm. Der Verdacht, dass es Gysi ist, liegt nahe. Der aber sagt, er habe mit Wissen Havemanns anderntags das Zentralkomitee der SED über sein Gespräch informiert. Meinung Stolpe, Stasi, Gysi Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe. Manfred Stolpe und Gregor Gysi vermittelten beide im DDR-Staat zwischen Oppositionellen und Obrigkeit, der eine für die Kirche, der andere als Anwalt. Bei beiden gibt es starke Indizien, dass sie auch für die Staatssicherheit arbeiteten. Aber bei beiden gibt es keinen letzten Beweis dafür, sondern immer nur Dokumente. Beide verneinen eine wissentliche IM-Tätigkeit. Ihre Kontakte zum Regime seien systembedingt notwendig gewesen und darüber nicht hinausgegangen. Kann sein, kann auch nicht sein. Der Unterschied ist: Manfred Stolpe wurde von der SPD 2002 trotzdem zum Bundesminister gemacht. Gregor Gysi versuchten die Sozialdemokraten hingegen gestern im Bundestag gemeinsam mit der Union an den Pranger zu stellen. Das wäre, wenn es wirklich etwas durchgreifend Neues gäbe, noch verständlich gewesen. Aber auch die jetzt aufgetauchten Vermerke sind nicht eindeutig. So war diese außergewöhnliche, weil gegen nur eine Person gerichtete aktuelle Stunde ein erbärmliches Kapitel im Parteienkampf. nachrichten.red@volksfreund.de

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