"Handlungsunfähige" im Abstimmungs-Stress

BERLIN. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) kann mit der gewünschten Niederlage bei der Vertrauensfrage an diesem Freitag rechnen, muss sich aber auf Klagen gegen Neuwahlen einstellen.

Selbst Abgeordneten der Noch-Koalitionsfraktionen war der gestrige Tag im Parlament nicht geheuer. "Irgendwie ist es schon paradox", meinte im Reichstag eine Genossin mit mulmigem Gefühl im Bauch. Denn vor dem historischen heutigen Freitag, an dem der Kanzler endlich sein Geheimnis lüften und die Vertrauensfrage stellen und begründen wird, hatten die Götter noch einmal den Schweiß gesetzt. Entsendegesetz eingestampft

Rund 40 Mal musste Rot-Grün per Abstimmung die Regierungsfähigkeit der Koalition unter Beweis stellen - allein neun Gesetze wurden verabschiedet, darunter die Offenlegungspflicht von Managergehältern, die Verschärfung der Nebenverdienstregeln für Abgeordnete und die Ausweitung der DNA-Analysen zur Strafverfolgung. Handlungsunfähigkeit, der Verlust des "stetigen Vertrauens", auf das Gerhard Schröder in seiner 20-minütigen Rede heute abheben will, sieht anders aus. Nun ist es in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause traditionell immer stressig für die Parlamentarier. Was diesmal aber nicht noch schnell ins Gesetzblatt gehoben wird, dürfte nach den möglichen Neuwahlen im September vollends Makulatur sein. Also versuchte Rot-Grün gestern auch, zu retten, was noch zu retten ist. Nur ein großes Vorhaben stampfte man lieber galant wieder ein: Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetz gegen Lohndumping. Dafür hätte die Koalition die Kanzlermehrheit gebraucht, was ein peinlicher Vorgang geworden wäre, denn ausgerechnet die will ja Gerhard Schröder heute unbedingt verfehlen. Nach der Ministerrunde am Mittwoch informierte der Regierungschef gestern die Spitzen der Koalitionsfraktionen über sein Vorgehen. Der Kanzler habe nichts gesagt, was über das Ministergespräch hinausgegangen sei, meinte danach Grünen-Chef Reinhard Bütikofer. Schröder wird sich also in seiner Begründung eng an das Verfassungsgerichtsurteil von 1983 zur Vertrauensfrage des damaligen CDU-Kanzler Helmut Kohl halten. Aber wie wird der Tag der Entscheidung heute verlaufen? Der Niedersachse wird um acht Uhr im Reichstag die SPD-Fraktion aufklären. Viel Zeit zum Debattieren oder zum Streiten bleibt der ohnehin wie paralysiert wirkenden Fraktion nicht. Denn gegen neun Uhr zieht Schröder schon weiter durch die Medienmeute zum Saal der Grünen, um auch dem Koalitionspartner zu verdeutlichen, wie er die Vertrauensfrage begründen will. Das tut Not, insbesondere die Roten haben immensen Gesprächsbedarf, wobei der Kanzler mit der knapp bemessenen Stunde die Lust an Erklärungen einzelner Abgeordneter bewusst gehörig eindämmt. Er weiß: Bei den Genossen gibt es nach wie vor erheblichen Widerstand gegen die inzwischen schon berühmte "Enthaltsamkeitsstrategie", die SPD-Chef Franz Müntefering ausgegeben hat. Eine Enthaltung kann schließlich nicht unbedingt als Zeichen des Misstrauens gewertet werden, auch nicht als Beihilfe zum Kanzlersturz, für den niemand verantwortlich sein will. So jedenfalls "Müntes" Kalkül. Viele Abgeordnete wollen aber auch deshalb Schröder nicht das Vertrauen entziehen, weil sie sich damit selbst aus dem Bundestag katapultieren würden; zahlreiche Genossen müssen bei Neuwahlen um ihre Rückkehr ins Parlament bangen. Einige machen daher hinter vorgehaltener Hand keinen Hehl daraus, dass ihnen ein Veto von Bundespräsident Horst Köhler in den kommenden Tagen am liebsten wäre - um ihr Mandat die nächsten 15 Monate noch erfüllen zu können. Drei Abgeordnete der Koalition wollen überdies voraussichtlich in Karlsruhe klagen, sollte Köhler das Parlament wie vom Kanzler gewünscht auflösen. Dem Vernehmen nach soll der Grüne Werner Schulz darüber bereits mit dem Staatsoberhaupt gesprochen haben. Anders als bisher geglaubt, hat es jedoch anscheinend auch eine enge Abstimmung zwischen Kanzleramt und Präsidialamt gegeben, damit die Vertrauensfrage trotz des geballten Frustes in den Koalitionsfraktionen möglichst verfassungsgemäß über die Bühne geht. Es heißt, dass ungefähr Zweidrittel der SPD-Abgeordneten sich enthalten werden, rund ein Drittel bei den Grünen. Einige wollen sich zudem erst entscheiden, wenn Schröder dem Parlament seine Begründung geliefert hat. Um zehn Uhr wird der Kanzler damit beginnen, in der folgenden, 70-minütigen Debatte wird auch Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel sprechen. Gegen 11.40 Uhr startet dann die historische Abstimmung - und ausgerechnet um zwölf Uhr mittags, "High Noon", soll dann das Ergebnis vorliegen.

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