"Hier gelten andere Regeln"

Washington. Revoltierende Gefangene, provoziert und misshandelt von US-Soldaten: Die Stimmung im irakischen Gefängnis Abu Ghraib war offenbar explosiv. Das zeigt der interne Untersuchungsbericht der US-Regierung.

Dem nackten Häftling wurde ein Hundehalsband angelegt. Dann musste er angeleint auf allen Vieren über den Flur kriechen - begleitet von einer jungen, fröhlich in die Videokamera winkenden US-Soldatin. Andere Filmsequenzen zeigen männliche irakische Gefangene, die Damenunterwäsche tragen müssen. Oder Häftlinge, die gezwungen werden, vor den Wärtern zu masturbieren. Diese zeichneten dies ebenfalls auf Video auf. Wer sich gegen diese Erniedrigungen wehrte, musste damit rechnen, geprügelt oder von einem der scharfen Wachhunde im Abu-Ghraib-Gefängnis gebissen zu werden. Die bisher nicht veröffentlichten Videofilme zählen neben den bereits bekannten Fotos zu den wichtigsten Beweisstücken im Missbrauchs-Skandal. Der 56-seitige, bis heute offiziell nicht freigegebene Untersuchungsbericht des US-Verteidigungsministeriums, dessen Inhalt dem TV im Wortlaut vorliegt, zeichnet mit der Aufzählung der umfangreichen Vorwürfe gegen amerikanische Bewacher das Bild einer offenbar völlig außer Kontrolle geratenen Abteilung der Militärpolizei, in der vor allem 18- bis 25-jährige junge Rekruten ohne große Diensterfahrung eingesetzt waren. Diese gaben, wenn sie zu den Anschuldigungen Stellung nehmen mussten, fast immer anderen die Schuld an den Übergriffen: "Sie wollten, dass wir die Gefangenen für die Verhöre vorbereiteten", sagte beispielsweise die Militärpolizistin Sabrina Harman aus. Sie - das waren die Mitarbeiter des Militär-Geheimdienstes, deren Aufgabe es ist, von den Häftlingen verwendbare Informationen zu erhalten.Geheimagenten und ihre willigen Helfer

Und die Bewacher zeigten sich zumeist als willige Helfer. "Ich habe vieles gesehen, was in meinen Augen moralisch zweifelhaft war", gab Sergeant Javal Davis zu Protokoll, "doch unser Vorgesetzter sagte uns: Hier gelten andere Regeln." Der Untersuchungsbericht zeigt jedoch auch, dass eine explosive Grundstimmung im Gefängnis den Nährboden für den Häftlings-Missbrauch bildete und zu einem besonderen Reiz-Klima führte. Denn die meisten der in US-Obhut getöteten Iraker kamen bei Ausbruchsversuchen oder Krawallen ums Leben, die offenbar in der Haftanstalt an der Tagesordnung waren. "Der Zufluss an Gefangenen war überwältigend", berichtet dazu Michael Drayton, ein Leutnant der US-Nationalgarde, der von November 2003 bis März 2004 ein anderes Militärpolizei-Kontingent dort befehligte. Viele der Aufseher hätten teilweise 18-Stunden-Schichten gearbeitet und seien mit der Aufgabe überfordert gewesen. "Das Problem war, dass Gewalt die einzige Sprache war, die von den Irakern verstanden wurde. Wer mit ihnen ein normales Gespräch zu führen versuchte, wurde nicht respektiert und hatte keine Chance, sich durchzusetzen", schildert Drayton die Situation. Während Draytons Dienstzeit kam es in Abu Ghraib zu zwei Revolten, die damit endeten, dass Militärpolizisten tödliche Schüsse einsetzten, um den Aufstand zu beenden. "Die Gefangenen haben mit Ziegelsteinen geworfen und die Wärter attackiert", sagt Drayton, der weiter berichtet, dass zuletzt nur rund 250 Männer und Frauen für die Bewachung von rund 7500 Inhaftierten zuständig waren. Dies habe dazu geführt, dass Rädelsführer unter den Gefangenen nicht isoliert wurden und somit ungehindert Krawalle und Ausbruchsversuche organisieren konnten. Mindestens fünf Häftlinge wurden in deren Verlauf getötet. Beigetragen zu den Unruhen in der Haftanstalt hat offensichtlich aber auch eine konstante Ungleichbehandlung durch die Wärter, wie sie im Untersuchungsbericht des Pentagon ausführlich geschildert wird. "Der Umgang mit den Häftlingen war unterschiedlich von Schicht zu Schicht", heißt es auf Seite 24 des Ermittlungsprotokolls. Und schließlich: "Soldaten waren untrainiert oder schlecht vorbereitet für alles, was mit ihrer Aufgabe zusammenhing." Die Ursache dafür steht für die Verfasser des Berichtes ebenfalls bereits fest: "Fehlende Handlungs-Regeln und eine schlechte Führung durch die Vorgesetzten."

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