"Ich finde keinen Sinn darin"

TRIER. Die zierliche, zerbrechlich wirkende Frau sitzt am Fenster. Sorgfältig frisiert und gekleidet, einenschicken Schal um den Hals. Anni Schwaab ist 66, aber die Strapazen ihrer Krankheit lassen sie älter aussehen. Diagnose: Speiseröhrenkrebs, unheilbar.

Manchmal ist die Diskrepanz zwischen dem Inhalt einer Aussage und der Art, wie sie vorgetragen wird, schwer zu begreifen. Anni Schwaab erzählt ihre Geschichte leise, sachlich, beherrscht. Aber was ihr widerfahren ist, gleicht einem jahrelangen, nicht enden wollenden Alptraum. Speiseröhrenkrebs, das bedeutet ein langsames Zuwuchern der Verbindung zwischen Mund und Magen. Nichts mehr essen und trinken können, Atemnot, höllische Schmerzen. Details zu beschreiben, würde die Erträglichkeitsgrenze eines Zeitungsartikels sprengen. Anni Schwaab lebt seit drei Jahren mit dem Krebs - nach einer langen Odyssee von Arzt zu Arzt, bis überhaupt festgestellt wurde, was ihr fehlt. Es folgten endlose Therapien, die die Metastasen nicht aufhielten. Als irgendwann das Wort "Palliativstation" fiel, wehrte sie sich zunächst mit Händen und Füßen. Inzwischen war sie zweimal dort, sagt, es sei "das beste gewesen, was mir in den letzten Jahren passiert ist". Man hat sie auf Schmerzmittel eingestellt. Alle drei Stunden, Tag und Nacht, bekommt sie eine Spritze, nur so lassen sich die Schmerzen halbwegs unter Kontrolle halten. Ihre Wohnung in Olewig musste sie aufgeben, seither wohnt sie im Hildegard-von-Bingen-Heim in der Herzogenbuscher Straße. Ihre Geschwister leben in Übersee, eine eigene Familie hat sie nie gehabt. Sie war berufstätig, arbeitete bei einem Weingut in Leiwen, später bei der Romika. Dann kam der vorzeitige Ruhestand, der Ausstieg aus dem Beruf. Inzwischen ist Hospizhelferin Stephanie Hofmeier ihre wichtigste Bezugsperson, fast so etwas wie ein Familien-Ersatz. Ihre Ängste, ihren Zorn, ihre Hoffnungen: All das schreibt Anni Schwaab nieder. Dutzende eng beschriebener Seiten mit einer fast pedantisch-gleichmäßigen Schrift halten fest, was sie bewegt. Manche der Seiten sind mit gelb-grünen Farbstreifen bemalt - sie sollen den Krebs darstellen. Die Ärzte und Pfleger auf der Palliativstation haben sie zum Schreiben ermuntert, inzwischen ist es fast so etwas wie eine therapeutische Maßnahme. Anni Schwaabs Krebs-Tagebuch sagt mehr über die Empfindungen todkranker Menschen aus als ein journalistischer Beschreibungsversuch es je könnte. Über die Achterbahnfahrt zwischen Angst und Hoffnung, Mut und Verzweiflung, Kampf und Resignation. Der Trierische Volksfreund dokumentiert Auszüge: Morgens werde ich wach und glaube, einen sehr schlechten Traum gehabt zu haben. Aber nein, es ist alles Wirklichkeit. S Bekam 31 Bestrahlungen und Chemo. Mir wurde der ganze Hals verbrannt. Es war alles ganz schrecklich, Schmerzen noch und noch. Konnte über ein Jahr nichts mehr essen, trinken oderschlucken. S Hier im Haus Hildegard von Bingen bin ich sehr zufrieden. Die Pflege ist gut, das Essen ist gut, rundherum ist alles gut. S Überall muss man zurücktreten, alles ist zu viel geworden. Die Einsamkeit erdrückt einen fast ganz, wenn man sich nicht ablenkt. Ich weiß nicht, wie das hier alles enden soll. S Der viele Besuch flaut so langsam immer mehr ab. Die meisten Freunde ziehen sich zurück und haben vielleicht auch Angst, etwas tun zu müssen. Aber ich denke, ich schaffe das auch so und brauche keinen. S Gestern ist im Nebenzimmer eine Frau aus Olewig gestorben, es hat mir sehr zu schaffen gemacht. Sie hatte fünf Jahre im Koma gelegen. Ich lasse an mir keine Lebensverlängerungen machen, ich will in Würde sterben. S Das Wort Krebs steckt in einem und verfolgt einen sogar im Schlaf. Ich habe den Krebs angenommen und will mit ihm um die Wette kämpfen, vielleicht habe ich noch eine Chance und kann ihn besiegen, so Gott will. S Die Wege des Herrn sind oft seltsam. Wie heißt es in einem Sprichwort: Wen Gott liebt, den züchtigt er. Das kann ich leider nicht verstehen. S Wenn der Herrgott will, soll er mich holen, je eher, desto besser. Mit der Diagnose Krebs ist mir alles genommen worden. Ich freue mich auf nichts mehr, ich sehe nur noch schwarz. Ein Tag ist wie der andere. S Wenn man vom Krebs befallen ist, versucht man von überall her Hilfe zu bekommen, denn man steht auf einmal ganz alleine da. Man wird aus der Gesellschaft ausgeschieden. Der Verein Hospiz versucht einem Hilfestellung zu geben. S Ohne Palliativ wäre ich heute nicht mehr am Leben, die haben mir Kraft und Stärke gegeben. Wenn es mit mir einmal zu Ende geht, will ich dorthin, in Ruhe und Frieden sterben. S Ich glaube an nichts mehr, habe auch den Glauben an die Menschheit verloren. Das macht der Krebs alles kaputt, und die Seele im Körper mit. S Heute schaue ich hier zum Fenster hinaus, wunderbares Wetter, Sonnenschein. Ich genieße es und sage: Gott, wie schön ist die Welt. Wenn ich auch nicht mehr der Mensch bin, der ich vor meiner Krankheit war. S Der Krebs gibt mir viel zu denken, ich suche einen Sinn in ihm, finde ihn aber nicht. Warum muss man so viel leiden auf dieser Welt? Gibt es eine Ewigkeit? Ich denke, der Mensch löst sich auf und lebt als Materie im All weiter. Ganz weg kann die Seele nicht sein. S Krebs erfasst den ganzen Menschen rundherum. Man fühlt sich wie zugeschnürt. Es gibt kein Heraus mehr. S Ich glaube, der Herrgott hat noch ein bisschen Zeit für mich. Jetzt will ich noch einmal den Winter mit all seinen Tücken genießen.

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