"Immer noch ein Tabu-Thema"

TRIER. Frauen und Männer mit geistiger Behinderung im selben Heim? Noch vor 20 Jahren war das die Ausnahme. Heute sind die meisten Einrichtungen weiter - und akzeptieren auch das Recht ihrer Bewohner auf Sexualität. Wie sieht die Praxis aus? Welche Probleme treten auf? Und wie werden sie gelöst? Darüber sprach der TV mit Brigitte Kuhn vom Lebenshilfe-Wohnheim in Gerolstein.

Welche Rolle spielen Partnerschaft und Sexualität für Menschen mit geistiger Behinderung? Brigitte Kuhn: Dieselbe Rolle wie für uns. Sie haben genauso ihre Bedürfnisse, wollen geliebt werden, Sex und Befriedigung. Allerdings sind Beziehungen unter Menschen mit geistiger Behinderung oft sehr kurzlebig. Das ist manchmal mit pubertärem Verhalten zu vergleichen: "Den mag ich nicht mehr, ich gehe jetzt mit dem und dem." Sie sind oft ungezwungener, weil Moralvorstellungen außen vor bleiben. Viele Beziehungen sind auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, haben mit Liebe nichts zu tun. Deshalb ziehen in unserem Heim Bewohner erst zusammen, wenn sie über Jahre hinweg ein Paar sind. Nehmen Sie als Verantwortliche Einfluss auf Beziehungen und Sexualität? Kuhn: Wir versuchen zu vermeiden, dass unsere Bewohner sexuell ausgenutzt werden. Wenn Beziehungen intensiver werden, bemühen wir uns, die Partner kennen zu lernen. Sehen wir Probleme, sprechen wir mit beiden und versuchen, einen Konsens zu finden. Aber wir achten auch die Selbstbestimmungsrechte und passen auf, dass wir nicht zuviel Einfluss nehmen. Man muss auch mal zusehen können. Menschen mit stärkerer Behinderung wissen manchmal nicht, wie sie ihre Sexualität ausleben können - dann versuchen wir anzuleiten. Wird das Recht geistig Behinderter auf Liebe und Sexualität allgemein anerkannt? Kuhn: Das ist oft immer noch ein Tabu-Thema. Viele jüngere Eltern gehen zwar offen damit um, und auch bei denen, die seit Jahren zusammenleben, stehen die Angehörigen mittlerweile dahinter. Aber in vielen Familien wird dieses Thema immer noch tot geschwiegen. Vielleicht, weil man Angst vor zusätzlichen Problemen hat. Welche Probleme könnten das sein? Kuhn: Zum Beispiel, dass man auf Verhütung achten muss. Bei uns gibt es nach Absprache mit den gesetzlichen Betreuern Pille oder Drei-Monats-Spritze.Einige Bewohner sind in ihrer Jugend sterilisiert worden, doch heute gibt es - zum Glück - hohe gesetzliche Hürden. Die Menschen mit geistiger Behinderung werden einbezogen, gegen ihren Willen darf nichts geschehen. Was passiert, wenn Bewohner einen Kinderwunsch haben? Kuhn: Darüber muss man sprechen. Das ist ein äußerst schwieriges Thema. Prinzipiell haben auch Menschen mit Behinderung ein Recht auf Kinder. Wir wollen niemandem dieses Recht aberkennen, aber zugleich muss natürlich für die Kinder gesorgt sein. Und dazu fehlen uns die Strukturen. Wir wissen, dass einige unserer Bewohnerinnen Kinder hatten, bevor sie zu uns kamen. Sie wurden ihnen gleich nach der Geburt weggenommen, zwischen Eltern und Kindern besteht keinerlei Kontakt mehr. Das ist für sie sehr, sehr schmerzhaft und reißt tiefe, bleibende Wunden. Deshalb raten wir eher ab und drängen auf Verhütung. S Mit Brigitte Kuhn sprach TV-Redakteurin Inge Kreutz.

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