Kampf um 41 Millionen Kinderleben

TRIER. Er gibt nicht nur den einzelnen Ländern Aufschluss darüber, wo sie stehen – der neue UN-Bericht über die menschliche Entwicklung nimmt die ganze Welt in den Blick. Ergebnis: Soll das gesteckte Ziel der Halbierung von Armut bis 2015 erreicht werden, ist mehr und bessere Hilfe für die Armen nötig. Um dieses Thema wird es auch beim Gipfel der Vereinten Nationen diese Woche in New York gehen.

Kevin Watkins findet eindringliche Worte: "Viele Länder haben nicht nur keine Fortschritte zu verzeichnen, sie sind noch weiter abgerutscht", sagt der Leiter des gerade veröffentlichten UN-Berichts über die menschliche Entwicklung. "Die Staats- und Regierungschefs, die sich in diesen Tagen bei den Vereinten Nationen versammeln, sollten sich unsere Zahlen zu Herzen nehmen. Es liegt in ihrer Macht, diese zutiefst beunruhigende Entwicklung umzukehren." Auf dem Gipfel sollen Fortschritte bewertet und weitere Maßnahmen empfohlen werden, um die Millenniums-Entwicklungsziele zu erreichen. Im Jahr 2000 hatten sich die Staats- und Regierungschefs der Welt unter anderem verpflichtet, bis 2015 die extreme Armut zu halbieren, die Kindersterblichkeit um zwei Drittel zu verringern und die allgemeine Primarschulbildung zu erreichen. Der Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), der den 191 Mitgliedsstaaten zur Vorbereitung auf den Gipfel vorgelegt wurde, zeigt, dass es deutliche Fortschritte gibt, diese aber zu langsam vonstatten gehen, um die Millenniums-Ziele zu erreichen. 2015 würden nach dem gegenwärtigen Trend 827 Millionen Menschen in extremer Armut leben - 380 Millionen mehr als bei Erreichen der Ziele. Bei der Kindersterblichkeit würde das Ziel erst 2045 erreicht. Folge: 41 Millionen zusätzliche Todesfälle. Der UNDP plädiert dafür, neben der Höhe auch die Art und Weise der Zahlungen zu verändern: Beispielsweise sollen ausufernde Anforderungen an die Berichterstattung reduziert werden. Der ehemalige afghanische Finanzminister Ashraf Ghani sagte den Autoren, er verbringe 60 Prozent seiner Zeit damit, Gebern Bericht zu erstatten. Massive Kritik üben die Entwicklungs-Experten an den Agrarsubventionen und dem Protektionismus der reichen Länder. Dem Bericht zufolge zahlen die Geberländer eine Milliarde US-Dollar pro Jahr, um die Landwirtschaft in Entwicklungsländern zu unterstützen - während sie die gleiche Summe pro Tag für inländische Subventionen ausgeben, die, wie es heißt, die ärmsten Bauern der Welt allmählich zugrunde richten. Nach Schätzungen des Berichts kosten die gesamten Auswirkungen von Protektionismus und Subventionen der Landwirtschaft in den reichen Ländern die Entwicklungsländer nahezu 72 Milliarden US-Dollar pro Jahr - ein Betrag, der der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe des Jahres 2003 entspricht. Ein wichtiger Punkt des Berichts ist auch der Zusammenhang von Armut und Krieg: "Gewaltsame Konflikte sind eine der sichersten und raschesten Wege, wie ein Land ganz am Ende der Entwicklungs-Tabelle landet", schreiben die Autoren. Sie machen sich dafür stark, unter dem Dach der Vereinten Nationen eine finanziell gut ausgestattete Kommission für Friedenskonsolidierung einzurichten, wie sie UN-Generalsekretär Kofi Annan vorgeschlagen hat. Dass die reichen Länder selbst finanzielle Probleme haben, erkennen die UNDP-Fachleute an. Entwicklungshilfe sei im Vergleich zu anderen Haushaltsposten jedoch ein verschwindend geringer Anteil, und in den ärmsten Ländern könnten durch kleine Erhöhungen viele Leben gerettet werden, schreiben sie. Und weisen auf eine "Großzügigkeitslücke" hin: Seit 1990 sei das Pro-Kopf-Einkommen der reichen Länder um 6070 US-Dollar gestiegen, während die Entwicklungshilfe um einen Dollar pro Kopf gesunken sei. Ein Versagen in der Armutsbekämpfung hätte auch für reiche Länder Konsequenzen, warnt UNDP-Administrator Kemal Dervis: "In einer von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt hängen unser gemeinsamer Wohlstand und unsere kollektive Sicherheit entscheidend von den Erfolgen im Kampf gegen die Armut ab."

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