Kanzlermacher in Dresden?

DRESDEN/BERLIN. Der Tod der Dresdner NPD-Direktkandidatin Kerstin Lorenz elf Tage vor der Bundestagswahl am 18. September hat möglicherweise weit reichende Konsequenzen für die Abstimmung und die Verkündigung des Endergebnisses. Im extremsten Fall könnte die Entscheidung über einen Machtwechsel in Deutschland deshalb nicht unmittelbar nach der Wahl fallen.

Für den Gute-Laune-Kanzler ist es ein Motivationsschub, was ihm die Demoskopen jetzt serviert haben: Nach dem Fernsehduell hat die SPD in mehreren Umfragen einen satten Sprung auf 34 Prozent verzeichnen können. Gerhard Schröder stachelt deshalb seine Wahlkämpfer jetzt an: 38 Prozent will er bei der Bundestagswahl am 18. September einfahren. Seine Rechnung ist simpel: "Wir brauchen noch vier Prozent Zuwachs, die anderen müssen genau die verlieren, dann haben wir ein Ergebnis, wie wir es 2002 auch hatten", setzt der Kanzler auf eine glasklare Wählerwanderung.

Zitterpartie wahrscheinlich

Vor drei Jahren hatten die Sozialdemokraten 38,5 Prozent erzielt, die Grünen 8,6. Damals verzeichnete die SPD nur schlappe 6027 Stimmen mehr als die Union. Jetzt scheint es laut Umfragen wieder ganz eng zu werden, zumindest haben nicht mehr Union und FDP, sondern erneut SPD, Grüne und die Linkspartei eine Mehrheit. Sollte es tatsächlich zu einer Zitterpartie kommen, ist nach der Schließung der Wahllokale also jede Menge Geduld gefragt. Sogar weitaus mehr, als man schon 2002 aufbringen musste. Denn die Bundestagswahl wird womöglich erst einige Wochen nach dem Urnengang entschieden sein. Wegen des überraschenden Todes einer NPD-Kandidatin wurde die Abstimmung im Dresdner Wahlkreis 160 mit 219 000 Wählern verschoben und eine Nachwahl angesetzt, die laut Gesetz spätestens sechs Wochen nach dem 18. September stattfinden muss. Ein ordnungsgemäßer Urnengang mit einem neuen Bewerber kann laut sächsischer Landeswahlleitung nicht mehr durchgeführt werden. Damit verschiebt sich aber auch die Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses der Bundestagswahl, was durchaus die Kür eines neuen Bundeskanzlers verzögern kann. Ungeachtet der Nachwahl in Dresden will der Bundeswahlleiter zwar in der Nacht des 18. September ein vorläufiges, amtliches Endergebnis verkünden, rechtlich ist dies allerdings durchaus umstritten. Denn dadurch könnten die Wähler im Wahlkreis 160 in ihrer Entscheidung beeinflusst werden. 219 000 Dresdner würden so vielleicht zum Kanzlermacher werden, wenn bei einem knappen Wahlausgang das Ergebnis in dem Dresdner Wahlkreis entscheidend ist.

Große Koalition rückt ins Blickfeld

Derweil reden sich die Genossen Mut zu angesichts der neuen Umfrage-Lage - ein "Ansporn, den Kampf noch entschiedener fortzusetzen", so der Kanzler auffordernd. Die Union wird hingegen nervös, macht aber in betonter Gelassenheit. Edmund Stoiber hat es schon immer gewusst, dass die Genossen noch aufholen werden. "Dass es knapp wird, war mir immer klar", so der bayerische Ministerpräsident. Der Abstand der SPD zur Union betrage aber immer noch neun bis zehn Prozentpunkte. "Das ist schon ein großer Unterschied." Und CDU-General Volker Kauder beschwichtigt gegenüber unserer Zeitung, in der Endphase von Wahlkämpfen würden die Volksparteien immer "etwas näher zusammenrücken" (siehe auch unten stehendes Interview). Angesichts der wackelnden schwarz-gelben Mehrheit und der Möglichkeit eines rot-rot-grünen Bündnisses, das offiziell keiner will, rückt daher jetzt wieder eine andere, ebenso ungeliebte Option ins Blickfeld: die große Koalition. Die letzte Woche vor der Bundestagswahl verspricht also noch einmal spannend zu werden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort