Kaum gekürt, schon gemobbt

BERLIN. Kaum ist sie auf den Schild gehoben, da bläst ihr der Wind schon wieder heftig ins Gesicht. Nicht nur aus den Reihen der SPD wird Angela Merkels Richtlinienkompetenz als künftige Kanzlerin in Frage gestellt.

Ob sie sich das am Tag danach so vorgestellt hat? Wohl kaum. Irgendwie fängt es für Angela Merkel an, wie es für sie aufgehört hat. Vorher gab es die Zweifler, die Kritiker, die mit der Botschaft hausieren gingen, "die kann es nicht". Seit Montag steht fest: Die Ostdeutsche soll tatsächlich erste Bundeskanzlerin dieser Republik werden. Wenn auch in einer allseits ungeliebten Großen Koalition aus Union und SPD. Sie hat es den Nörglern also gezeigt, eher schlecht als recht, das stimmt. Aber sie ist fast im Kanzleramt angekommen. Das zählt. Doch was passiert: Merkel muss nur wenige Stunden nach der kraftvollen Durchsetzung ihres Machtanspruchs gegenüber den zeternden Obergenossen Müntefering und Schröder wieder die alten Kämpfe fortführen, die sie Zeit ihres politischen Lebens begleitet haben - um Respekt und Anerkennung. Diesmal auf einer anderen, höherrangigen Ebene. Es geht um die Machtfrage, ausgerechnet um die. Sie ist für eine Kanzlerin schließlich die wichtigste Frage. Kein gutes Omen für die kommenden vier Jahre. Alles ist vorläufig. Die Kabinettsliste, die Themenfolge, die bei den Koalitionsverhandlungen ab Montag besprochen werden soll, wer dabei sein wird, wer nicht. Nur eines ist gewiss: Artikel 65 des Grundgesetzes besagt, "der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik". Basta. Dass die Umsetzung dieses verfassungsrechtlichen Auftrags für Merkel kein Zuckerschlecken werden wird, liegt auf der Hand: Acht Ministerien gehen an die SPD, zwei an die CSU - Merkel muss sich wie umzingelt fühlen. Die mögliche Koalition steht darüber hinaus aufgrund des großen Unmutes bei den Genossen, aber auch in den eigenen Reihen auf tönernen Füßen. Vor allem aber: Merkel, die Misstrauische, wird in der Regierung mächtige Gegenspieler haben, die in den Koalitionsrunden kungeln und die Muskeln spielen lassen wollen. Dort fallen die Entscheidungen, weniger im Kanzlerbüro. Sie muss vermitteln. Ausgerechnet sie, die Ungeliebte. Wie soll das funktionieren? "Es wird schwer", räumt ein CDU'ler ein. Ihr deshalb aber gleich die Richtlinienkompetenz öffentlich abzusprechen, das ist ein so starkes Stück, dass die Unionsgranden gestern vor der Fraktionssitzung das Thema möglichst klein reden wollen. Erst gibt SPD-Chef Franz Müntefering zu Protokoll: "Die Anwendung der Richtlinie ist nicht lebenswirklich." Wer das in einer Koalition wolle, müsse wissen, dass die Koalition zu Ende sei, so Müntefering weiter. Eine Drohung gegenüber Merkel, der Hinweis, es bleibe bei "gleicher Augenhöhe". Ein Satz, der vor allem aber an die eigenen Genossen gerichtet ist - wir sind stark, wir werden uns inhaltlich nicht alles bieten lassen. Und es stimmt ja, Koalition heißt Kompromiss, per order de Mufti geht da kaum etwas. Dann folgt aber Edmund Stoiber, CSU-Chef und designierter Wirtschaftsminister, später bläst Fraktionsvize und CSU-Landesgruppenchef Michael Glos ins selbe Horn: Merkel werde nur eine stark eingeschränkte Richtlinienkompetenz haben. Prompt steht sie öffentlich da wie das berühmte, gerupfte Huhn, weshalb in Berlin sofort vom zünftigen Streit in der Union die Rede ist. "Ich verstehe die Debatte nicht", wehrt Unions-Innenexperte Wolfgang Bosbach ab. Der Text in der Verfassung sei eindeutig, "die politische Wirklichkeit besteht darin, dass jeder Partner Rücksicht nimmt". Hinter vorgehaltener Hand heißt es von anderer Seite über Stoiber jedoch, "der redet viel, wenn der Tag lang ist". Und genau das kann ja heiter werden am Kabinettstisch. Mit einem Bayern auf Rollensuche, der glaubt, wie geunkt wird, Berlin habe nur auf ihn gewartet. Und das in einer großen Koalition, in der die CSU kräftig degradiert ist. Merkel muss sich verdammt warm anziehen. Der Abgeordnete Stoiber, der ja in den Bundestag gewählt worden ist, lacht und grinst, geht aber schweigend an den Medien vorbei in die Fraktionssitzung der Union. Auch danach gibt es von ihm kein Wort zur Debatte um Merkels Stärke. Die künftige Kanzlerin referiert in dem Gremium artig, fordert die Unionisten auf, die mögliche Koalition "anzunehmen", nur dann könne sie erfolgreich sein. Es dürfe nicht so weit kommen, formuliert sie nett, dass sich die SPD-Abgeordneten abends beim Bier bei den Kollegen der Linkspartei beschwerten, "wie schlimm das doch alles ist", und die der Union bei den Liberalen. Auch von ihr kein Wort zum Thema Richtlinienkompetenz. Der Konflikt wird vorerst ausgesessen. Das können Kanzler gut. Nur zu Beginn der Sitzung läutet Merkel ungewöhnlich lange mit der Glocke - als ob sie bimmelnd zeigen wollte, wer das Sagen haben soll.

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