Keine Lust ohne Risiken und Nebenwirkungen

Lust, so sagt das kluge "Zeit"-Lexikon, ist ein "auf Befriedigung eines stark empfundenen Bedürfnisses oder Mangels zielender Antrieb", aber auch das aus der erfolgten Befriedigung entstehende "heftige, zeitlich begrenzte Glücksgefühl". Warum man die Lust besonders mit dem Frühjahr verbindet, steht nicht im Lexikon.

Und doch packt selbst Träge irgendwann im Mai eine gewisse Aufbruchsstimmung. Oder zumindest das unbestimmte Gefühl, irgend etwas Besonderes müsste wieder mal passieren - wenn man nur nicht so eingespannt wäre im täglichen Einerlei. Lust, meint Goethe, sei "das einzig Reelle, was auch wieder Realität hervorbringt". Aber trotz der Ermunterung durch den Dichterfürsten tun sich die Deutschen mit der Lust alles andere als leicht. Zur Lust gehört das Wagnis und die Bereitschaft, an Grenzen zu gehen, sie im Fall der Fälle auch zu überschreiten. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem, was man will, dem, was man soll, und dem, was man darf, entsteht der Reiz. Routine und Genuss sind unvereinbare Gegensätze. Aber hier zu Lande pflegt man sich erst einmal nach den Risiken und Nebenwirkungen zu erkundigen. Und nach der Versicherungspolice. Doch gegen die Konsequenzen der Lust und des Genusses hilft keine Assekuranz. "Alle Lust will Ewigkeit", postulierte einst Friedrich Nietzsche. Will heißen: Sie neigt dazu, sich nicht mit kleinen Dosen zufrieden zu geben. Sie zielt auf Wiederholung und Steigerung. Wer Lust will, bewegt sich immer im Grenzbereich der Sucht. Das hat lange niemanden sonderlich interessiert. In den 60ern und 70ern war das Ausleben der Lust ein Ausdruck des Protests gegen die Spießigkeit und Leibfeindlichkeit der Nachkriegszeit. In den 80ern und 90ern dominierte die unpolitische, aber durchaus lustbetonte Spaßgesellschaft. Das Bild hat sich nachhaltig geändert. Vielleicht aus Überdruss. Und sicher auch deshalb, weil die durchglobalisierte, auf gnadenlosen Wettbewerb getrimmte, folgekostenbewusste Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts allzeit belastbare, topfitte, selbst kontrollierte Einsatzkräfte braucht. Da passt ein Übermaß an Lust und Lebensfreude nicht mehr ins Bild. Lust auf Essen? Mein Gott, der Cholesterinspiegel! Lust auf Zocken? Hilfe, die Spielsucht! Lust auf Trinken? Der Alkoholismus droht. Lust auf Computerspiele? Das endet womöglich im Amoklauf. Lust auf Rauchen? Lungenkrebs ist programmiert. Lust auf gutes Aussehen? Da dräuen Magersucht einerseits und Anabolika-Bodybuilder andererseits. Lust auf ein Dope-Pfeifchen? Das Heroin-Gespenst grinst um die Ecke. Lust auf Sex? Wohl Aids vergessen, was! Und man darf wetten, dass sich anno 2007 für jedes Thema ein Politiker, Gesundheitsapostel, Jugendschützer, Suchtexperte findet, der flugs ein Verbotsschild hochhält. Schlechte Zeiten für die Lust. Und interessanterweise sind es heutzutage längst nicht mehr primär die Kirchen, die den Spaß an der Lust verderben. Die Spaßbremsen sitzen im Parlament, in der Expertenkommission, in der Talkshow - und, sind wir ehrlich, bisweilen auch in den Redaktionen der Republik. Nun ist die Sache zugegebenermaßen auch nicht ganz so einfach. "Genießen war noch nie ein leichtes Spiel", singt Konstantin Wecker. Einfach die Sau rauszulassen, hat noch nichts mit gekonnter Lust zu tun. Und exzessiv ewig das Gleiche zu tun, ebenso wenig. "Mannigfaltigkeit schafft die höchste Lust" - nochmal Goethe. Wer also lautstark mit "Geier Sturzflug" dröhnt, eins könne ihm keiner nehmen, "und das ist die pure Lust am Leben", versteht zwar vielleicht was von "Fun", aber noch nicht unbedingt von Lust. Doch das ist kein Problem, er kann ja zu einem der rund 100 Ratgeber in Sachen Lust greifen, die das entsprechende Stichwort bei Amazon zum Vorschein bringt. Längst hat der Lust-Berater aus dem Bücherregal nicht mehr nur mit jener Art von Lust zu tun, die van de Feldes "Vollkommene Ehe" für die Nachkriegs-Generation beschrieb. Am Markt ist alles und jedes. Lust ist verkaufsfördernd, zumal dann, wenn sie in Gestalt von Patentrezepten daherkommt. Es ist ja so einfach, ein lustvolles Leben zu führen, sagen die "Simplifyer", und machen ihre Leser dabei zu jenem, was der Bayer zur Recht "Simpl" nennt. Dann doch lieber ein bisschen Risiko. Platz für Neues. Auch in einer braven Tageszeitung wie dem TV. Mal sehen, was die Leser dazu sagen, wenn in ihrem Blatt plötzlich lokale Tipps über die schönsten Plätze für die Liebe im Freien erscheinen. Oder Promis gefragt werden, wie sie es mit der Lust an der Macht halten. Oder Leser ihrer Lust am Abenteuer frönen dürfen. Oder über Lust am Luxus geschwärmt wird. Es wird spannend. d.lintz@volksfreund.de

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