Keine Show-Effekte, sondern viel Substanz

Berlin. Angela Merkel, am 1. März 100 Tage Kanzlerin, müsste derzeit permanent erröten: So ungeteilt freundlich, offen und verdeckt, ist schon lange nicht mehr über einen Regierungschef geredet worden.

Nicht über Gerhard Schröder, der das Land mit Rot-Grün immerhin sieben Jahre lang regierte. Auch nicht über dessen Vorgänger Helmut Kohl, der es auf 16 Kanzlerjahre brachte. Dieses neue Wohlwollen sprengt längst die Reihen der eigenen Partei wie der schwarz-roten Koalition. Es sind jetzt auch die Spitzen von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, die von der neuen Bundeskanzlerin, ihrer Art des Umgangs und Auftretens und von ihren Reden angetan sind. Eine positive Stimmungs-Koalition in dieser Zusammensetzung, hier das Arbeitnehmerlager, da die Arbeitgeber, die hat es in Deutschland bislang so noch nicht gegeben. Am Dienstagabend hatte Angela Merkel die vier wichtigsten Wirtschaftsbosse zu einem vertraulichen Gespräch in die achte Etage des Berliner Kanzleramts geladen: BDA-Chef Dieter Hundt, BDI-Präsident Jürgen Thumann, Ludwig Georg Braun, Chef des DIHK und Handwerkspräsident Otto Kentzler. Mit am Tisch auch Vize-Kanzler Franz Müntefering (SPD), im Kabinett zuständig für das Schlüsselministerium Arbeit und Soziales. Auffallend war, dass Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) nicht geladen war. In trauter Runde war man sich rasch einig: Viele der anstehenden großen Reformen sind wohl nur mit einer großen Koalition zu lösen. Deshalb müsse diese jetzt auch konstruktiv begleitet werden. Inhaltliche Präsenz und Aktensicherheit

Am Mittwochabend dann ein zweites Spitzengespräch im Kanzleramt. Diesmal mit der Führung der Gewerkschaften. An der Spitze DGB-Chef Michael Sommer mit seinem geschäftsführenden Vorstand, dazu die Chefs der acht Fachgewerkschaften. Merkel zur Seite auch diesmal wieder Franz Müntefering. Erneut nicht geladen: Wirtschaftsminister Michael Glos. Zwar war für die Dialoge absolute Diskretion vereinbart worden. Soviel war dennoch zu erfahren: Beide Male waren die Gäste ,,außerordentlich angetan" von der ,,inhaltlichen Präsenz und der Aktensicherheit" der Kanzlerin, wie es hinterher von verschiedenen Teilnehmern ausgedrückt wurde. Ihr ,,sachlicher Stil hat uns allen sehr gefallen. Keine Show-Effekte, sondern viel Substanz und motivierender Charakter", hieß es von einem der Unternehmer-Gäste im Kanzleramt. ,,In Berlin wird wieder regiert, sie hat die Amtsgeschäfte mit bemerkenswerter Souveränität in die Hand genommen", so ein anderer Kommentar. ,,Merkel ist akzeptierte und geschätzte Herrin im Ring. Der Fortschritt ist auch klimatischer Natur", so ein DGB-Vertreter. Wir erinnern uns: Vor der Bundestagswahl und die Wochen danach hatte es noch ganz anders und schriller geklungen. Heute ist das Schnee von gestern. Zwar will Merkel in diesen Wochen weder den ,,runden Tisch", noch das ,,Bündnis für Arbeit" in der alten ritualisierten Form wieder beleben, hieß es. ,,Das ist von Rot-Grün verbrannt worden", meinte dazu gestern ein Spitzenfunktionär des DGB. ,,Aber die Kanzlerin hat uns zu verstehen gegeben, dass sie den Dialog mit den Gewerkschaften auf der einen und dem Arbeitgeberlager auf der anderen Seite sehr deutlich intensivieren will." Die Kanzlerin ist also auf der Suche nach ihrer neuen Rolle als sozialpartnerschaftliche Brückenbauerin. Unter dem Motto: In schwierigen Zeiten aus höchst unterschiedlichen Positionen Konsens finden im Dialog und dann das Beste für Deutschland daraus machen. Diese Mühe wird nötig sein, denn die Themen haben es in sich: Rentenreform, Gesundheitsreform, Mindestlöhne und Kombilohn, Kündigungsschutz, Unternehmenssteuerreform, Arbeitsmarkt und Arbeitnehmerbeteiligung an Firmengewinnen. Berührungsängste gibt es nach beiden Treffen inzwischen von keiner Seite mehr. Gute Voraussetzungen, um die großen Vorhaben auch anzupacken.

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