Kellnern, um zu überleben

Der Abwärtstrend der Konjunktur ist in den Vereinigten Staaten allgegenwärtig. Immer mehr Menschen verlieren Jos und Bleibe und haben Schulden und keine Rücklagen.

Charleston. Ob er denn die Anzeichen einer Wirtschaftskrise spüre, lautet die Frage an den Taxifahrer in der Südstaaten-Metropole Charleston (South Carolina). "Anzeichen?", fragt der Mann hinter dem Steuer und lacht. "Die Rezession hat uns doch schon voll erwischt." Auch in den Restaurants im historischen Kern der Küstenstadt, traditionell ein beliebtes Touristenziel, ist der Abwärtstrend der Konjunktur leicht ablesbar. Im Bistro "Rue de Jean", wo Hungrige vor Monaten noch jeden Abend um Tische stritten, sind zur besten Dinner-Zeit viele Plätze frei: Amerika dreht den Penny dreimal um. Und Kellner Josh, vor wenigen Wochen noch bei einer Baumarkt-Kette beschäftigt, teilt sein Schicksal mit unzähligen US-Bürgern, die kürzlich noch glaubten, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben. Sein früherer Arbeitgeber hat Personal abgebaut, weil vielen Hausbesitzern das Geld ausgegangen ist, um Ausbauten oder Renovierungen am eigenen Heim vorzunehmen. Jetzt serviert der Entlassene halbtags Fisch und Fritten, um sich über Wasser zu halten. Am Nachbartisch klagen sich zwei Vertreter der Maklerbranche über Bier und Krabbenfrikadellen ihr Leid.Zwei Millionen Menschen werden ihr Haus verlieren

Auch in und um Charleston. wo sich am Samstag die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten dem Wählervotum stellen, haben Zwangsversteigerungen rapide zugenommen - und drücken die Immobilienpreise weiter in den Keller. Und der Leerstand von Bürogebäuden in der Stadt - ein guter Konjunktur-Gradmesser - hat sich innerhalb von drei Jahren verdoppelt und beträgt nun gut 17 Prozent. Doch Interessenten machen sich weiter rar. Die Fernseh-Schirme am halbleeren Bar-Tresen zeigen immer wieder die Tagesereignisse an der Wall Street - mit großen roten Zahlen und Pfeilen nach unten. Auf die Stimmung drückt auch die Last der täglich neu veröffentlichten Horror-Zahlen: Zwei Millionen Menschen, die allein in diesem Jahr in den USA ihr Haus verlieren dürften. Umsatzzahlen des Einzelhandels? Deutlich gesunken im ausgabefreudigsten Land der Welt im Vergleich zum Vormonat. Die Preise für Nahrungsmittel und Getränke? Um 4,8 Prozent innerhalb von zwölf Monaten gestiegen - angeführt von den Eierpreisen, die fast um 30 Prozent in die Höhe schnellten. Und die Verluste der großen Finanzinstitute? Atemberaubend: Die "Bank of America" muss mehr als 5,3 Milliarden Dollar aus faulen "Subprime" -Deals abschreiben, deutlich in den Schatten gestellt noch von der "Citigroup" mit 24,6 Milliarden Dollar. Bankangestellte warten auf die Kündigung

Zehntausende von Bankangestellten warten deshalb derzeit auf den Entlassungsbrief - und werden die Arbeitslosenquote, derzeit auf einem Zweijahreshoch von fünf Prozent, weiter nach oben drücken. Die Medien - wie die "Post and Courier"-Zeitung in Charleston - überschlagen sich mit Tipps, wie die zum Thema Nummer eins gewordene Krise überstanden werden kann. Doch viele Bürger sitzen tief in der Schuldenfalle, wie auch die Zeitung anmerkt: Die Gesamt-Kreditkartenschulden betragen derzeit 900 Milliarden Dollar, dazu kommen bis zu 30 Pozent Jahres-Schuldzinsen, eine vom Staat geduldete Wucherrate. "Der Mangel an Ersparnissen und der Umfang der Verschuldung ist atemberaubend," klagt Gary Foreman, Herausgeber eines Verbraucher-Ratgebers. Sein wichtigster Rat für den Rezessions-GAU, also den Weg in die Arbeitslosigkeit: "Jetzt schon nach Alternativen auf dem Jobmarkt suchen, sich weiterbilden und Zweitjobs annehmen." In Washington zimmert man unterdessen verzweifelt an einem Notprogramm, das den Abwärtstrend stoppen soll. Im Gespräch sind 150 Milliarden Dollar an Steuergeschenken und Finanzspritzen. Ein Paket, das aufgrund der Brisanz der Lage innerhalb von nur drei Wochen durchgepeitscht und dann US-Präsident George W. Bush zur Unterschrift vorgelegt werden soll. Doch Experten zweifeln, ob dieser Aktionismus tatsächlich greifen wird. "Was sollen Steuererleichterungen, wenn es kaum noch amerikanische Produkte in den Läden gibt und wir damit vor allem Waren aus China bezahlen?", fragt CNN-Wirtschaftsexperte Lou Dobbs und stellt die Frage, die auch in Charleston beim Blick in die Biergläser gestellt wird: "Wie schlimm wird es wirklich werden?"

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