Kirchhof – Zauberer oder Scharlatan?

TRIER. Noch nie hat ein Nicht-Politiker die politische Debatte in Deutschland derart beeinflusst wie der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof. Der Wissenschaftler wirbelt mit seinen Steuerplänen fest gefügte politische Fronten durcheinander und sorgt für Auseinandersetzungen, die fast an einen Glaubenskrieg grenzen.

Es kommt eher selten vor, dass Juristen für einen wissenschaftlichen Vortrag in distinguierter Umgebung Jubel ernten wie ein Fußballspieler für das entscheidende Tor in letzter Minute. Als Paul Kirchhof bei den Bitburger Gesprächen im Januar 2004 das Rednerpult verließ, fehlte nicht viel, und das noble Publikum wäre in Sprechchöre ausgebrochen vor lauter Begeisterung über sein Gedankengebäude zu einer völligen Neugestaltung des Steuerrechts.Als Wissenschaftler allseits anerkannt

Ein halbes Jahr zuvor das gleiche Bild, als Kirchhof in der Trierer Promotionsaula als erster Geehrter überhaupt den frisch gestifteten Oswald-von-Nell-Breuning-Preis der Stadt entgegennahm. Zustimmung gab's quer durch alle Fraktionen.

Seit der Professor in die Politik eingestiegen ist, ist es vorbei mit der einhelligen Begeisterung. Statt umfassende Gesamt-Konzepte in eineinhalbstündigen, rhetorisch brillanten Referaten zu umreißen und im keimfreien All der hohen Wissenschaft seine intellektuellen Höhenflüge zu zelebrieren, muss Kirchhof 30-Sekunden-Statements für die Tagesschau abliefern, sich bei "Berlin-Mitte" der renitenten Attacken eines erbosten Finanzministers erwehren und die Skepsis von Gesinnungsfreunden ertragen.

Kirchhof tut das mit einer Mischung aus wissenschaftlicher Nonchalance und dem unverbrüchlichen Selbstbewusstsein des juristischen Überfliegers. Manchmal wirkt er fast wie ein irritierender (und irritierter) Fremdkörper inmitten der routinierten Polit-Profis, skurril, altväterlich, wie ein Prediger unter Marktschreiern.

Inhaltlich aber ist sein Kreuzzug für ein neues Steuergesetzbuch der blanke Sprengstoff. Ein Alptraum für die Bewahrer des Bestehenden in allen Fraktionen, ein Hoffnungsschimmer für diejenigen, die nicht glauben, dass alles so weitergehen kann wie bisher. Kirchhof, der Querdenker, bringt gewohnte ideologische Zuordnungen ins Kippen.

"Die Reichen profitieren am meisten", giftete, ausgerechnet, die letzte Sonntagsausgabe der konservativen Frankfurter Allgemeinen. "Pauschal sozial" findet hingegen der "Spiegel" das Kirchhof-Modell und nennt es "sozialer, als die meisten glauben". Ähnlich sieht's der politisch eher auf der Linken angesiedelte EKD-Präsident Wolfgang Huber, während der pechschwarze Ministerpräsident Christian Wulff sinniert, ob denn Kirchhofs Ideen überhaupt mit dem deutschen Gerechtigkeitsempfinden in Einklang zu bringen seien.

Kurzum: Der "Professor aus Heidelberg", wie ihn der Bundeskanzler mit Vorliebe tituliert, hat die Szene nach allen Regeln der Kunst aufgemischt. Das hängt auch damit zusammen, dass sich zum Modell Kirchhof jeder die Zahlen zusammenrechnet, die er haben will. Ein horrendes 43-Milliarden-Steuerloch prognostizieren die einen, eine aufkommensneutrale Einführung sagen die anderen voraus. Je nach Blickwinkel prophezeien die Betrachter soziale Segnungen für Kleinverdiener oder paradiesische Verhältnisse für Superreiche. Der Bund der Steuerzahler sieht Kirchhof ebenso wie der Bund der Steuerberater auf dem richtigen Weg. "Effekthascherei" und "ungerechte Verteilung" wittert hingegen der linke Bremer Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel.

Zwei Haupt-Konfliktpunkte haben sich inzwischen in der heftigen öffentlichen Debatte herauskristallisiert, und sie hängen eng mit den Rechenexempeln zusammen: die "Gerechtigkeitsfrage" nach der Aufteilung der Steuerlasten zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft, und die "Finanzierungsfrage" nach den zu erwartenden Einnahmeausfällen und ihrer Verkraftbarkeit für die öffentliche Hand. Weil Kirchhofs Modell so beispiellos - und damit kaum berechenbar - ist, wird wohl der Streit um seine hypothetischen Konsequenzen noch lange anhalten. Es sei denn, es käme irgendwann zu einem Test in der Praxis.

Aber daran zweifeln viele. Selbst für den Fall, dass Angela Merkel die Wahl gewinnt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort