Klüngel, Pannen und Paralyse

New Orleans/Washington. Mehr als eine Woche nach der Hurrikan-Katastrophe gibt es noch immer nur Spekulationen über die Zahl der Toten. Der Bürgermeister von New Orleans, Ray Nagin, schließt nach Medienberichten vom Dienstag nicht aus, dass bis zu 10 000 Menschen bei dem Hurrikan und den anschließenden Überflutungen starben.

Vor einer Woche, als im von Chaos und Anarchie regierten Stadtzentrum von New Orleans tausende Amerikaner vor laufenden Fernsehkameras tagelang um Hilfe flehten und tausende - so schätzt es zumindest Bürgermeister Ray Nagin - elendig in ihren Häusern ertranken, befand sich US-Außenministerin Condolezza Rice drei Tage lang in New York. Reporter sichteten das stilbewusste Bush-Kabinettsmitglied auf der noblen Fifth Avenue beim Schuheinkauf und beim Besuch einer Broadway-Show. Vize-Präsident Dick Cheney erholte sich weiter auf seiner Ranch in Wyoming. Mehrere enge Bush-Berater, darunter auch Republikaner-Parteichef Ken Mehlman, weilten in Griechenland - und machten trotz der historischen Krise keine Anstalten, vorzeitig in die Heimat zurückzukehren. Schließlich galt es auf einer idyllischen Insel in der Ägäis die Hochzeit von Bush-Kommunikationsberaterin Nicolle Devenish zu feiern. Und Michael Brown, Chef der US-Katastrophenschutzbehörde Fema, verschanzte sich mit Mitarbeitern in einem Konferenzraum in Washington, als die Nachrichtensender immer verzweifeltere Appelle von Hungernden und Leidenden ausstrahlten. Dort beauftragte er sie, eine Organisationsstruktur für den akuten Katastrophenfall auszuarbeiten - ein Plan, der eigentlich schon längst fertig in der Schublade liegen sollte. Doch Brown, ein bis dahin unauffälliger Parteibuch-Republikaner, hatte bei seinem Amtsantritt im vergangenen Jahr keinerlei Notfall- und schon gar nicht Verwaltungserfahrung vorzuweisen. Seine Referenzen: Zehn Jahre lang leitete er den Verband arabischer Zuchtpferde in den USA - bis zu dem Zeitpunkt, wo ihn sein Vorgänger bei der Fema, Joe Allbaugh, bei George W. Bush als Nachfolger empfahl. Bush-Günstling Allbaugh, ein früherer emsiger Spendensammler Bushs, und Brown hatten immerhin an der Universität eine Studentenbude geteilt - das verbindet. Inkompetenz, Parteibuch-Klüngel und ein wie paralysiert wirkendes Bush-Team, das den Ernst der Lage tagelang nicht begriff oder den Kopf in den Sand steckte - das waren, wie heute feststeht, die Zutaten zu dem wohl größten Versagen staatlicher Behörden im Katastrophenfall. "Aus 9/11 haben wir nichts, aber auch gar nichts gelernt", urteilte die New York Times, die von einer "nationalen Schande" und "der schlimmsten Vorstellung eines amerikanischen Präsidenten" spricht. Mediziner reisten statt zu arbeiten

Erschütternd wie beängstigend sind dabei die Details über den hinter den Kulissen ausgetragenen Kompetenzstreit zwischen der Bundesbehörde Fema, den Militärs und den lokalen Verantwortlichen vor Ort. So wurde ein Armeeteam mit Medizinern, das kritisch Kranke bereits am ersten Tag nach dem Durchzug von "Katrina" in New Orleans versorgen sollte, tagelang von Fema-Mitarbeitern zwischen den Bundesstaten Louisiana, Mississippi und Alabama hin- und herbeordert, ohne dass auch nur ein Patient betreut wurde. Das US-Lazarettschiff "Bataan" mit hunderten von Betten liegt immer noch vor der Golfküste, doch zu aktiven Hilfeleistungen kam es nicht - der Befehl dazu von oben, so wurde jetzt bekannt, sei ausgeblieben. Drei Lastwagen der Walmart-Kaufhauskette, die unbürokratisch Paletten mit Wasserflaschen in die Stadt bringen sollten, wurde von staatlichen Katastrophenschützern die Zufahrt verwehrt, berichtet Aaron Broussard, der Bezirkschef von Jefferson. George W. Bush selbst schien von diesen skandalösen Vorgängen kaum etwas mitzubekommen. Erst am Freitag vergangener Woche flog er nach New Orleans, wo er auf dem Flughafen die wohl denkwürdigste Kurzrede seines Lebens hielt. Denkwürdig, weil er sie vor allem dazu nutzte, an seine feucht-fröhliche Studentenzeit in den Bars von New Orleans zu erinnern und den Parteifreund Trent Lott zu bedauern, der durch "Katrina" eine seiner Liegenschaften verloren hatte. "Trent, wir bauen dir ein fantastisches neues Haus, und ich freue mich schon darauf, mit dir wieder auf der Terrasse zu sitzen," fabulierte Bush. Es war ein Augenblick, in dem die amerikanische Nation einen Präsidenten erlebte, der nicht nur von Beratern, sondern auch allen guten Geistern verlassen schien.

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