Kranke Kassen

BERLIN. Die gesetzlichen Krankenkassen haben in einem Schreiben an die Spitzen von Union und SPD kurzfristige Gesetzesänderungen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen gefordert. Andernfalls müssten 2006 die Beiträge erhöht werden, heißt es in dem Brief. Der TV sprach mit dem Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes, Hans Jürgen Ahrens.

Im laufenden Jahr wird bei den gesetzlichen Kassen ein Überschuss von zwei Milliarden Euro erwartet. Das passt ganz und gar nicht zu Beitragssteigerungen. Ahrens: Diese Prognosen sind überholt. 2006 drohen tatsächlich Defizite. Das sind die Fakten. Kein Politiker soll sagen können, er hätte nicht gewusst, wie ernst die Lage ist. Die Kassen haben deshalb jetzt auf die Probleme hingewiesen und deutlich gesagt, wie sofort wirksam gespart werden kann. Jetzt muss die Politik die notwendigen Regelungen beschließen. Die Kassen beklagen die wachsenden Arzneiausgaben. Worin sehen Sie die Ursache? Ahrens: Über 17 000 Pharmavertreter beeinflussen das Verschreibungsverhalten der Ärzte sehr stark. Die Kassen haben nun ein Bonus-/Malussystem vorgeschlagen. Ärzte, die gut und wirtschaftlich verordnen, hätten einen Zusatzverdienst. Ärzte, die unwirtschaftlich verordnen, müssten denn zahlen. Auch die ärztliche Fortbildung wird zu stark von der Pharmaindustrie dominiert. Hier ist mehr unabhängige Information wünschenswert, damit Ärzte die Vorschläge der Pharmaindustrie künftig mehr mit kritischer Distanz prüfen. Die AOK bietet Ärzten eine spezielle Analysesoftware und ergänzende Beratung an, um die Arzneimittelversorgung hinsichtlich Qualität und Wirtschaftlichkeit zu optimieren. Was könnte der Gesetzgeber bei den Arzneimittelherstellern tun?Ahrens: Kurzfristig wirksam wäre eine Aufstockung der gesetzlichen Rabattregelungen. Notwendig ist weiterhin eine Weitergabe der Naturalrabatte für Apotheker an die Versicherten. Die Apotheken streichen von den Herstellern enorme Naturalrabatte ein, das geht nach dem Muster: Liefere mir 100 Packungen, ich bezahle nur 70, rechne dann aber natürlich 100 Packungen mit der Kasse ab. Auch hier muss der Gesetzgeber eingreifen. Zurzeit wird über eine Anhebung der Mehrwertsteuer diskutiert. Welche Konsequenzen hätte diese Maßnahme für die Krankenkassen?Ahrens: In Deutschland müssen die Kassen auf Arzneimittel den vollen Mehrwertsteuersatz zahlen, anders als in vielen europäischen Ländern. Zwei Prozent mehr Mehrwertsteuer sind dann auch zwei Prozent mehr Arzneimittelausgaben für die Kassen. Das wären etwa 480 Millionen Euro Mehrausgaben in 2006 nur für Arzneimittel. Natürlich kommen dann auch weitere Effekte in anderen Ausgabenbereichen hinzu. Deshalb halten die Kassen eine Absenkung des Mehrwertsteuersatzes auf Arzneimittel für dringend notwendig. * Das Gespräch führte unser Korrespondent Stefan Vetter.

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