Kurt Beck zieht die Notbremse

Mit ihrem Beschluss für Tempo 130 auf Autobahnen hat die SPD die Tempolimit-Debatte neu angefacht. Auf dem Hamburger Parteitag zeigte überdies die Basis neues Selbstbewusstsein und brachte die Parteispitze beim Thema Bahn-Privatisierung arg in die Bredouille.

Hamburg. Peter Conradi nahm seinen Parteivorsitzenden einfach beim Wort: "Nah bei den Menschen" müsse die SPD sein, zitierte der ehemalige Bundestagsabgeordnete aus Kurt Becks Parteitagsrede. "Aber die Menschen wollen keine Bahn-Privatisierung, und sie sind davon auch nicht zu überzeugen", rief Conradi unter dem frenetischen Applaus der Delegierten. Nein, so hatte sich Kurt Beck das nicht vorgestellt. Da war die Parteiführung über Wochen damit beschäftigt gewesen, einen Kompromiss zur ungeliebten Bahnreform zu zimmern. Generalsekretär Hubertus Heil prophezeite bis zuletzt, dass es eine "breite Mehrheit" dafür geben werde. Doch nun drohte die schöne Parteitagsharmonie komplett den Bach hinunterzugehen. Um die Basis für eine Bahn-Privatisierung zu gewinnen, hatten sich die Strategen ein Volksaktienmodell ausgedacht. 25,1 Prozent der Anteile bei der Bahn sollen in einem ersten Schritt als stimmrechtslose Vorzugsaktien ausgegeben werden. Das Kalkül: Private Großinvestoren, die zu viel Einfluss auf die Unternehmenspolitik gewinnen oder die Bahn am Ende gar zerschlagen könnten, werden auf diese Weise abgeschreckt. Trotzdem blieb das Misstrauen ungebrochen. Besonders die Parteilinken fürchten, dass der Kompromiss bei den weiteren Verhandlungen mit der Union bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wird. Davon zeugte auch die leidenschaftlich geführte Debatte auf dem Parteitag. Als Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee den zusätzlichen Kapitalbedarf der Bahn noch einmal ausführlich begründete und versprach, sich gegenüber der Union "mit aller Kraft" für die Volksaktie einzusetzen, gab es nur spärlichen Beifall. Selbst ein von Berliner Sozialdemokraten vorgeschlagenes Junktim - ohne Vorzugsaktien keine Privatisierung - schien den meisten noch nicht weit genug zu gehen. Im Saal schwebte das generelle "Nein" zur Privatisierung. Ja zur eilends entworfenen Formulierung

Da eilte Kurt Beck ans Rednerpult und zog die Notbremse. In einem eindringlichen Appell, der einer Vertrauensfrage glich, warb der Vorsitzende weniger mit Argumenten, aber mit aller Macht für eine eilends entworfene Formulierung, die schließlich angenommen wurde. Demnach darf der Parteivorstand ein Verhandlungsergebnis mit der Union nur dann absegnen, wenn es klar die Volksaktie enthält. Ansonsten muss sich ein Parteitag erneut mit dem Thema befassen. "Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit", höhnte ein Delegierter. "Wenn die Koalition etwas anderes beschließt, dann wird auch eine neue Parteitagsentscheidung notwendig." Dass die Basis noch Gefallen an der Privatisierung finden könnte, ist freilich kaum zu erwarten. Die Union wiederum lehnt das Modell der Volksaktie strikt ab. Eindeutiger Verlierer dieser Gemengelage ist Wolfgang Tiefensee, der schon bei den Wahlen zum Parteivorstand fast gescheitert wäre. Dabei hatte sich die Emanzipation der Parteibasis bereits in der Umweltdebatte angedeutet. Es sei "unaufrichtig, eine solche Diskussion zu führen, und wenn es konkret wird, dann verdrücken wir uns", schimpfte ein Delegierter lautstark ins Mikrofon. Stein des Anstoßes: die steuerliche Besserstellung von PS-starken Dienstwagen. Der Vorstand wollte die fiskalischen Vorteile lediglich "auf den Prüfstand stellen". Die Delegierten wollten mehr und stimmten klar für deren Abschaffung.Wenig Chancen auf Einigung mit der Union

Darüber hinaus beschloss der Parteitag mit großer Mehrheit die Einführung eines Tempolimits von 130 km/h auf deutschen Autobahnen. Und das ebenfalls gegen den erklärten Willen des Vorstands. Am meisten freute sich die Bundestagsabgeordnete Heidi Wright über den gelungenen Coup. Die bayerische Parlamentarierin strebt schon länger einen Koalitionsbeschluss zum Tempolimit an, wurde aber bislang von beiden Fraktionsspitzen ausgebremst. Nun hofft sie auf ein Umdenken. "Was unser Parteitag beim Tempolimit beschlossen hat, muss sich auch in der Union durchsetzen", meinte Wright. Um die Einigungschancen ist es allerdings ähnlich schlecht bestellt wie bei der Bahn-Privatisierung. Hintergrund Weitere Parteitags-Beschlüsse der SPD:Arbeitslosengeld: Das ALG I soll für über 50-Jährige bis zu 24 Monate lang bezahlt werden. Derzeit beträgt die Höchstbezugsdauer 18 Monate. Mindestlohn: Die SPD will einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Eine faire Entlohnung für Mini-Jobber auf 400 Euro-Basis soll durch Begrenzung der Arbeitszeit auf 15 Stunden pro Woche erreicht werden. Betriebe, die überdurchschnittlich ausbilden, können mit einem Ausbildungsbonus rechnen. Beruf und Familie: Um beides vereinbaren zu können, soll es für die Pflege von Angehörigen einen Anspruch auf zehn Tage Freistellung von der Arbeit und einen Ausgleich in Höhe des Krankengeldes geben. Bundeswehr: Die SPD ist für eine Fortsetzung der Bundeswehr-Beteiligung an der US-geführten Anti-Terror-Operation "Enduring Freedom" (OEF). Die Partei will zudem die Wehrpflicht praktisch abschaffen und die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee umwandeln. Klimaschutz: Neben dem Tempolimit soll zur Minderung der Treibhausgase bis 2020 der Stromverbrauch um 11 Prozent gesenkt werden. Soziales: Kindergeld soll nicht bis zum 25. sondern wieder bis zum 27. Lebensjahr gezahlt werden.

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