Leiden für jede Lebenslage

FREIBURG. Jede Nachfrage schafft sich ihr Angebot - jedes Symptom sucht sich seine Diagnose. In seinem neuen Buch "Was hab ich bloß - die besten Krankheiten der Welt" kritisiert der Freiburger Mediziner und Autor Werner Bartens "Modekrankheiten" und eine "Befindlichkeitsindustrie", die für jeden Leidenden etwas bereit hält.

Am Anfang war das Symptom, und das Symptom war diffus und diffus war auch die Diagnose, die schließlich gestellt wurde: Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung, kurz Kiss-Syndrom. Das soll erklären, warum ein Säugling sich mehr nach links als nach rechts dreht, nicht einschlafen kann und noch dazu ständig schreit; eine Diagnose also, die für nahezu jede Befindlichkeit kleiner Patienten taugt. Und für die eine simple Therapie scheinbar schnelle Linderung verspricht: Kiss-Therapeuten behandeln ihre jungen Patienten mit etwas Druck im Nacken. Eine Behandlung, die sich bezahlt macht: Rund 50 Euro kostet die Sitzung. Doch dass es das Kiss-Syndrom tatsächlich gibt, bezweifeln so ziemlich alle Kinderneurologen und die Kassen, in deren Leistungskatalogen die ominöse Therapie nicht auftaucht. Kiss - das ist nur ein, wenn auch besonders eindrucksvolles Beispiel für Mode-Diagnosen, wie sie der Freiburger Journalist und Autor Werner Bartens in seinem neuen Buch "Was hab ich bloß? - Die besten Krankheiten der Welt" beschreibt, und mit dem der promovierte Arzt provoziert. So kritisiert Bartens einen Trend hin zu einer "Befindlichkeitsindustrie" und zeigt auf, wie Medizin, Forschung und Patienten gemeinsam eine Gesellschaft geschaffen haben, die vor allem einer Maxime zu folgen scheint: "Es gibt keine Gesunden, es gibt nur Menschen, die nicht gründlich genug untersucht worden sind." Wundermittel mit Nebenwirkungen

Dabei weiß Bartens auch um die wechselnden Funktionen von Krankheiten und schreibt von "Leiden für jede Lebenslage". So hinterfragt der Autor auch die Hormonersatztherapie für Frauen. Lange Zeit als "Wundermittel für die Frau in den besten Jahren" gepriesen, lenkt Bartens den Blick auf neueste Untersuchungen aus den USA: Dort wurde kürzlich eine groß angelegte Studie zur Hormonersatztherapie mit rund 16 000 Frauen zwischen 50 und 79 Jahren vorzeitig abgebrochen. Der Grund: Es waren zu viele Nebenwirkungen aufgetreten. Im Vergleich zu den 8000 Frauen, die ein Scheinpräparat verabreicht bekommen hatten, waren bei den 8000 Patientinnen, die eine Kombination aus Gestagenen und Östrogenen erhielten, 41 Prozent mehr Schlaganfälle aufgetreten. Außerdem wurden 29 Prozent mehr Herzinfarkte und doppelt so viele Thrombosen gezählt. Eher amüsanterer Natur sind da jene Passagen im Buch, die sich den "Leiden für Ossis" widmen: In punkto Hämorrhoiden habe der Osten kräftig aufgeholt und fast schon Westniveau erreicht, hat Bartens herausgefunden. Er geht auch der Frage nach, weshalb seit Wende und besserer Luft immer mehr Ostdeutsche Allergien entwickeln. Vom ominösen Syndrom zum anerkannten Leiden

Ausführlich geschildert werden Modediagnosen: Am Beispiel der Vielfach-Chemikalien-Unverträglichkeit beschreibt Bartens die Hilflosigkeit von Medizinern, die dazu neigten, zwanghaft nach Diagnosen für unerklärliche Symptome zu suchen; Patienten würden dann selbst Ursachenforschung betreiben. Krankheiten entwickelten dann eine Eigendynamik, "aus einem ominösen Syndrom werde so ein anerkanntes Leiden". Bartens Buch durchzieht eine feine Ironie, die dem Ernst der Thematik jedoch keinen Abbruch tut. Denn der Autor liefert eine ebenso fundierte wie auch lesenswerte Auseinandersetzung mit einem an und für sich Frohsinn mindernden Thema. Anhand von zahlreichen Beispielen und einigen "Selbsterfahrungen" zeigt der erklärte Hypochonder viel Einfühlungsvermögen. Was gleichwohl nicht sein Urteil über die Hochleistungsmedizin mildert: "Die schafft sich einen Teil ihres Bedarfs selbst." Auch deshalb gebe es in den Arzt-Praxen "heute mehr Gesunde mit Befunden, die keine Bedeutung haben, und immer mehr Kranke ohne Befund". Werner Bartens: Was hab ich bloß? Die besten Krankheiten der Welt. München 2003, (Verlag Droemer), 384 Seiten, 19,90 Euro. Zum Autor: Werner Bartens ist Arzt, Historiker und arbeitete an Forschungsinstituten in den USA sowie an den Unikliniken Freiburg und Würzburg. Er ist Redakteur bei der Badischen Zeitung in Freiburg.

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