"Man musste den Mut haben, auf ihn zuzugehen"

TRIER. Was heutigen Generationen eher als Mythos erscheint, Karl Haehser hat es aus nächster Nähe miterlebt: die Politiker-Persönlichkeit Herbert Wehner. Fast zwei Jahrzehnte arbeitete Haehser als Abgeordneter und Staatssekretär mit der sozialdemokratischen Legende zusammen. Das erlaubt ihm einen Blick hinter die Klischees.

Schon die erste Erinnerung, die sich bei Karl Haehser einstellt, zeigt einen ganz anderen Herbert Wehner als die Geschichtsbücher. Damals habe er als Jung-Abgeordneter Besuch von alten Schulkameraden gehabt, "und die wollten unbedingt den Wehner kennenlernen". Also habe er seinen Mut zusammengenommen und "Onkel Herbert", der wie stets im Plenum saß, gefragt, ob er zu einem Gespräch bereit sei. "Wenn du meinst, dass es dir nützt", habe Wehner gebrummt. Und anschließend den ganzen Abend im Bundestagsrestaurant mit der Gruppe zugebracht, einen Witz nach dem anderen erzählend. "Der konnte im kleinen Kreis zu großer Form auflaufen", schmunzelt Haehser, "aber bei offiziellen Anlässen habe ich ihn nie lachen sehen". Das Zuchtmeister-Image habe Wehner durchaus bewusst gepflegt, sagt Haehser. Und sich manchmal sogar insgeheim über die "Manschetten" der Anderen amüsiert. Aber die Angst "war eigentlich nicht begründet". Man habe "nur den Mut haben müssen, auf ihn zuzugehen". Natürlich war Wehner auch ein mit allen Wassern gewaschener Fuchs und Stratege. Das brachte dem jungen Haehser sogar einen seiner ersten großen Bundestags-Auftritte ein. Franz-Josef Strauß habe damals in der Haushaltsdebatte die Regierung heftig attackiert, und man rechnete allseits mit einem prominenten Gegenspieler der SPD. "Karl, du machst das", habe Wehner entschieden, und sich später diebisch über den Ärger von Strauß amüsiert, weil es "nur ein kleiner Obmann" gewesen sei, der auf ihn antwortete. "Den hast du schön abfahren lassen", habe Wehner ihn anschließend gelobt. Aber Karl Haehser hat nicht nur jenen Wehner kennen gelernt, der im Parlament lustvoll mit Zwischenrufen provozierte, eine Literflasche Schnaps als Dank für die Haushalts-Erarbeitung spendierte oder manuskriptfrei Reden hielt, bei denen die Abgeordneten plötzlich in rauen Scharen in den ansonsten verwaisten Plenarsaal strömten. Er kannte auch den sensiblen Wehner, der angesichts der Attacken, die nicht auf die Politik, sondern auf den Menschen gemünzt war, von sich sagte: "Die reißen mir das Herz aus dem Leib." Verletzlich sei er gewesen, "mehr als manche Leute sich vorstellen können". Aber selbst innerhalb des inneren Zirkels der Fraktion sei "kaum jemand so richtig an ihn rangekommen". Das Zerwürfnis mit Willy Brandt führt Haehser auf Mentalitätsfragen zurück: Der preußische Pflichtmensch Wehner sei "schwer mit Menschen zurecht gekommen, die eine fröhlichere Lebenseinstellung hatten". So verletzend Wehner manchmal sein konnte, so intensiv und menschlich engagiert sei er für DDR-Bürger in Not gewesen, erzählt Karl Haehser. Als Finanzstaatssekretär habe er bisweilen unbürokratisch helfen können, wenn es um die Bereitstellung der dafür notwendigen Mittel ging. Vielleicht hat ihm deshalb Herbert Wehner in seinen späten Lebensjahren auf der Insel Öland jedes Jahr eine Karte geschickt.

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