Mauer der Vergessenheit

BERLIN. Vor 15 Jahren lagen sich Tausende nach dem Mauerfall überglücklich in den Armen. Das Gedenken an diese historische Stunde fällt bescheiden aus.

Die Geschichte begann in staubtrockenem Amtsdeutsch: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt", erklärte ein nervös und fahrig wirkender Günter Schabowski. Auf Nachfrage meinte das SED-Politbüromitglied irritiert, nach seiner Kenntnis trete die Regelung "sofort und unverzüglich" in Kraft. Was Schabowski unbeabsichtigt ausgelöst hatte, entwickelte sich schon wenige Stunden später zu einem wahren Freudentaumel. Von Emotionen überwältigt, lagen sich Tausende Ost- und Westberliner in den Armen. Der Kurfürstendamm avancierte zur riesigen Partymeile. Die Mauer, von der SED als "antifaschistischer Schutzwall" vernebelt, stand zwar noch bedrohlich in der Landschaft. Doch an diesem historischen Abend des 9. November 1989 hörte sie auf, in den Köpfen zu existieren, wurde die deutsch-deutsche Grenze nach beinahe drei Jahrzehnten wieder für jedermann passierbar.1000 Menschen ließen ihr Leben

Das Symbol der deutschen Teilung erstreckte sich über 106 Kilometer Länge quer durch die Hauptstadt. Hinzu kamen noch einmal fast 1400 Kilometer Sperr- und Tötungsanlagen an der innerdeutschen Grenze. Rund 1000Menschen ließen an dieser Trennlinie ihr Leben. Mehr als 230 von ihnen starben an der Berliner Mauer. Wer die Spreemetropole in diesen Tagen besucht, kann die Zeugnisse dieser bewegten Vergangenheit allenfalls noch in Spurenelementen entdecken. In den Köpfen ist die Euphorie über den Mauerfall ebenfalls der Ernüchterung gewichen. 15 Jahre nach dem historischen Ereignis fallen dann auch die offiziellen Erinnerungen und Gedenkstunden bescheiden aus. Die Stasi-Unterlagenbehörde wird heute in Berlin ein "Abendforum" veranstalten, auf dem einstige DDR-Bürgerrechtler wie Ulrike Poppe oder Wolfgang Templin weitgehend unter sich bleiben. Das CDU-Präsidium nutzte das Datum in einer offiziellen Erklärung zur Bekräftigung der Schelte gegen Rot-Grün: Es offenbare ein "ungeheures Maß an nationaler Würdelosigkeit", dass die Bundesregierung das Datum des Nationalfeiertages zur Disposition gestellt habe, heißt es in dem Papier. Den beiden grünen Fraktionsvorsitzenden, Katrin Göring-Eckardt und Krista Sager, ist der geschichtsträchtige 9. November lediglich eine zehnzeilige Pressemitteilung wert. Und der Bundestag, der in dieser Woche turnusmäßig zusammen kommt, geht völlig geräuschlos über das Datum hinweg. Markus Meckel, im Wendeherbst vor 15 Jahren Gründungsmitglied der Ost-SPD, nennt diese Tatsache einen Akt "politischer und öffentlicher Selbstvergessenheit". Es sei "bedauerlich", dass der Bundestag zum Mauerfall "schweigt". Auch das von der Opposition kritisierte Bestreben der Bundesregierung, den Tag der Einheit als arbeitsfreien Feiertag abzuschaffen, gehört für den SPD-Parlamentarier in die Kategorie der "Identitäts- und Geschichtsvergessenheit". Einen traurigen Beleg dafür liefert das Emnid-Institut mit seiner jüngsten Umfrage unter rund 1000 repräsentativ ausgewählten Bundesbürgern. Jeder Dritte weiß demnach nichts mit dem 9. November anzufangen. Nur 67 Prozent der Deutschen sind mit dem Datum des Mauerfalls vertraut. Von den jungen Leuten bis zu 29 Jahren ist sogar annährend jeder Zweite (42 Prozent) ahnungslos, was an jenem Herbsttag vor 15 Jahren geschah. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann spricht deshalb schon von einer "Historisierung" des Honecker-Staates.

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