"Mein ganzes Leben ist zerstört"

New Orleans . Erschütternde Szenen und menschliche Tragödien finden sich in diesen Tagen überall in dem in trübem Brackwasser versinkenden New Orleans. Immer noch warten Tausende auf Hausdächern oder in Dachböden auf Rettung aus der Luft, verzweifelt winken sie mit weißen Bettlaken. Hinzu gesellen sich Chaos und Anarchie.

Eine alte Frau sitzt weinend neben dem verhüllten Leichnam ihres Mannes, einem Lungenkrebs-Patienten. Der Vorrat in seiner lebenswichtigen Sauerstoff-Flasche, die er stets hinter sich herzog, ging am Mittwoch zu Ende. Doch die steigenden Fluten ließen die Nachschub-Lieferung ausfallen. Auf einer Autobahnbrücke im Stadtzentrum, eine der wenigen nicht überspülten Flächen, kämpft eine Mutter verzweifelt um das Leben ihres sechs Wochen alten Sohnes. "Er ist ganz heiß und atmet kaum noch", fleht sie ein vorbei kommendes Fernseh-Team an. Die Reporter geben ihr Wasser und versuchen, einen vorbeifahrenden Lastwagen der Nationalgarde zu stoppen. Doch die Militärs winken müde ab - sie sind offenbar auf einer anderen Mission, und Befehl ist Befehl. Eine halbe Stunde später stoppt schließlich ein Polizeiwagen und fährt das reglose Baby in eine Klinik. Ob es überleben wird? Niemand vermag dies zu sagen. Das Kommunikationsnetz in der Stadt ist immer noch zusammengebrochen. Marodierende Banden kapern Evakuierungs-Bus

Plünderungen und Gewalttaten spielen sich im meist hüfthohen Wasser ab. Mit aufblasbaren Matratzen oder Plastikwannen wird abtransportiert, was in Geschäften in die Hände fällt: Lebensmittel, Hosen, Tennisschläger, Radios, Computer - sogar Waffen. Am Mittwochabend ordnete Bürgermeister Ray Nagin an, die gesamte, 1500 Mann starke Polizeimacht der Stadt möge sich zunächst nur um eines kümmern: weitere Diebstähle zu verhindern. Ein Ladenbesitzer hat ein handgeschriebenes Schild an seiner Tür befestigt: "You loot, I shoot." - "Du plünderst, ich schieße." Einige Männer benutzen einen gestohlenen Gabelstapler, um den Eingang zu einer Drogerie aufzubrechen. Wenig später tragen sie Pakete mit Medikamenten und Drogen heraus. Als ein Reviergebäude von einem mit Plünderern besetzten Fahrzeug mit Maschinenpistolen beschossen wird, denken die Beamten gar nicht erst an eine Verfolgung: "Dazu fehlt uns das Personal." Die am Mittwochabend begonnene Evakuierung tausender Obachloser aus dem "Superdome"-Sportstadion muss am Donnerstag unterbrochen werden, nachdem Schüsse auf einen über dem Stadion kreisenden Hubschrauber abgefeuert wurden. Insgesamt 500 Busse sollen die Heimatlosen ins gut 500 Kilometer entfernte Houston im Bundesstaat Texas bringen, wo im "Astrodome" - einem ebenfalls überdachten gigantischen Football-Feld - eine bessere Versorgungs-Infrastruktur zur Verfügung steht. Ohne Klima-Anlage und angesichts überfluteter Toiletten ist ein Aufenthalt im "Superdome" nicht mehr zumutbar. Allein in der letzten Nacht seien drei Menschen an Atemnot gestorben, berichten Sanitäter. Seit die ersten Busse vor dem Stadion auftauchten, drängen Tausende um die Fahrzeuge. Wann der Transport weiter geht, war gestern nicht absehbar - zumal ein anderer Bus von marodierenden Banden mit vorgehaltenen Waffen gekapert worden war. Bürgermeister Nagin hat die Bevölkerung auf die Total-Evakuierung vorbereitet. Hunderte, wenn nicht gar tausende Tote seien zu befürchten, vor allem in den überfluteten Dachstühlen einiger deichnaher Bezirke sei mit einer hohen Opferzahl zu rechnen. Und Nagin hat noch eine Hiobsbotschaft parat: Die Stadt werde die nächsten zwei bis drei Monate "nicht funktionieren". Kein Strom, kein sauberes Wasser, keine öffentlichen Dienstleistungen. Rund 100 000 Menschen, schätzt der Bürgermeister, verharren immer noch in der Stadt. Unterdessen gerät das Krisen-Management von US-Präsident George W. Bush, der in einer kurzen Fernseh-Ansprache "effektive Hilfe" in Aussicht gestellt hatte, unter Beschuss. Aus der Opposition ist zu hören, dass New Orleans nur deshalb den Deichschutz vernachlässigen musste, weil diese Gelder im Irak eingesetzt wurden. In der stinkenden Brühe treiben Leichen

Die, die rechtzeitig vor "Katrina" fliehen konnten, sind geprägt von Verzweiflung, Sorge um die Angehörigen - und Trotz. "Selbst, wenn unser Haus die Flutwelle überstehen sollte, werden wir es wohl geplündert vorfinden", sagt Ken Finnegan, der sich mit Frau und Kindern zu Verwandten in den benachbarten Bundesstaat Alabama geflüchtet hat. "Mein ganzes Leben ist zerstört", sagt Rick Lehman, ein auf historische Bauwerke spezialisierter Immobilienmakler aus New Orleans. "Meine Schwester wird vermisst, und was mir geblieben ist, trage ich am Körper. Irgendwann aber werden wir die Stadt wieder aufbauen." Doch wann wird irgendwann sein? Der Wasserpegel ist inzwischen zum Stillstand gekommen - in einigen Stadtteilen bei sieben Metern. Eine stinkende Brühe, in der Trümmer, Müll, Öl und immer wieder auch Leichen schwimmen. Eine Brühe, die - wie in einer Suppenschüssel - nicht abfließen kann. Kevin Montgomery verbrachte die letzten drei Tage auf einem Hausdach, bevor er von einem Helikopter gerettet wurde. Die leblosen Körper, die an ihm vorbei trieben, wird er nie vergessen: "Ich konnte nichts mehr für diese Menschen tun - außer zu hoffen, dass sich Gott ihrer angenommen hat."

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