Merkel greift heute nach der Macht

BERLIN. Am Ende gelten immer noch die Weisheiten: Gewählt ist gewählt, Mehrheit ist Mehrheit. Heute um zehn Uhr wird Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt werden. Sollten ihr Stimmen aus den Reihen der großen Koalition von Union und SPD fehlen, haben die Geschichtsbücher zumindest ihre Fußnote für diese Kanzlerwahl gefunden.

Viele Abgeordnete, verkünden die Großkoalitionäre aber, werden es nicht mehr sein, die Nein zu Merkel sagen werden. Die Zuchtmeister der Fraktionen sind schon seit Tagen unterwegs, um mögliche Abweichler auf Zustimmung zu trimmen. Dann reden sie vom "Fehlstart, der vermieden werden muss", von der "überwältigenden Zustimmung zum Koalitionsvertrag auf den Parteitagen", die man sich doch in Erinnerung rufen solle. Und man muss ja nur selbst genau hinhören, um festzustellen, der Groll der Nachwahl-Zeit Marke SPD-Vize Ludwig Stiegler ist augenscheinlich verflogen, die Töne der einstigen barschen Merkel-Kritiker sind längst moderater, milder, geworden. Die Ostdeutsche, wie Genossen zugeben, hat in den Koalitionsverhandlungen deutlich an Statur gewonnen. Mit Merkel, mit ihr als Kanzlerin, hat man leben gelernt. Wenn auch nicht ohne Bauchschmerzen. Am Nachmittag legt sie ihren Eid ab, am Abend wird der launige Gerhard Schröder das Kanzleramt an seine nach außen meist emotionslose Nachfolgerin übergeben. Gerüttelt hat sie an dessen Zaun nie, wie einst Schröder in Bonn. Hinein wollte sie aber schon lange. Erst musste sie 2002 Edmund Stoiber den Vortritt als Kandidat überlassen, 2005 dann ging in der Union an ihr kein Weg mehr vorbei. Nur die Deutschen wollten sie, die kühle Frau aus der Uckermark, die eiserne Angela, die Unnahbare mit dem unsicheren Mienenspiel, nicht unbedingt dienen lassen. Ein miserables Ergebnis fuhr Angela Dorothea Merkel, geborene Kasner, am 18. September bei der Bundestagswahl für die Union ein. Die Messer lagen bereit, die vom Hessen Roland Koch, vom Bayern Edmund Stoiber, vom Niedersachsen Christian Wulff.Taktieren kann sie, aussitzen auch

Doch ausgerechnet Gerhard Schröder sicherte Merkel mit seinem selbstherrlichen Auftritt am Wahlabend, seinen Attacken auf Merkel und die Union insgesamt das politische Überleben. Seitdem ist sie wieder ganz die Physikerin der Macht - mit der Kraft ihrer inneren Ruhe, dem geduldigen Warten auf den richtigen Augenblick, auch mit Charme und dem öffentlich gern verborgenen Witz hat sie ihren Beitrag geleistet, die Genossen ins Boot zur Union zu ziehen. Sie werde nie Kanzlerin, hatte Schröder am Wahlabend getönt. Ach wie schön, wenn man unterschätzt wird. Seit 15 Jahren geht das jetzt schon mit Merkel so; nach dem Mauerfall begann sie in der Tat unbedarft im politischen von einst mit der "Betonfrisur" und den Faltenröcken die Union im Jahr 2000 aus Kohls Spendensumpf befreien würde. In Wahrheit unterschätzt seit dem niemand mehr Angela Merkel wirklich. Was aber nicht bedeutet, dass die 51-Jährige nicht ständig ihre Position in der Männerwelt der Politik besonders kräftig behaupten und verteidigen muss. Der Weg ins Kanzleramt, das Koalitionswirrwarr nach der Bundestagswahl steht sinnbildlich für ihre Zeit als CDU-Vorsitzende, für die ewigen Auf und Abs. Taktieren kann sie, aussitzen auch, sie denkt viel und lange und quer. Misstrauische tun dies, Naturwissenschaftler allemal. Macht kann sie ebenso, das hat sie von Kohl gelernt. Und wie. Ob sich heute die damit verbundene, permanente Anspannung, die sie ja schon wieder seit Monaten in sich trägt, entlädt? Wenn Bundestagspräsident Norbert Lammert sie gefragt hat, ob sie die Wahl annimmt, sie Ja gesagt hat und die Gratulationkür beginnt? Damit ist nicht zu rechnen, Merkel wird ein wenig lächeln, mehr wohl nicht. Manchem Westler ist sie wegen dieser Emotionslosigkeit immer noch unheimlich, vielen Ostlern ist sie demgegenüber längst zu verwestlicht. Auch in Momenten des Erfolges kann sie eben nicht aus ihrer Haut, anders als Schröder bleibt die CDU-Chefin gerne sachlich, pragmatisch, spröde. Genügend Respekt vor dem Amt

Noch nie hatte eine Frau in Deutschland so viel politische Macht, wie Merkel heute verliehen wird. Sie weiß, sie wird jetzt in ein ganz neues Rampenlicht eintreten, von nun an hat jedes Wort doppeltgewichtige Bedeutung. Wie wird sie das Amt prägen? Und wie prägt das Amt sie? Abwarten. Mit "Fröhlichkeit und Leidenschaft" will sie die Republik regieren, ein Satz, der eigentlich aus dem Munde Gerhard Schröders stammen könnte. Keiner weiß aber besser als er, dass Fröhlichkeit allein nicht reicht, die gute Laune schnell verfliegen kann, wenn man einen Koalitionsvertrag "mit Leben" (Merkel) erfüllen muss. Ob Merkel "Kanzler kann", ausgerechnet in einer großen Koalition der Machtblöcke? Genügend Respekt vor dem Amt hat sie jedenfalls. Und das ist vielleicht die wichtigste Voraussetzung.

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